Die geschwächte Gesellschaft
Heizschwammerl oder kein Heinzschwammerl, das ist hier die Frage. Seien Sie lieber vorsichtig, wenn Sie zum Beispiel auf Twitter äußern, dass ihnen die Heizgeräte für den Außenbereich bei arktisch anmutenden 13 Grad Außentemperatur in Gastgärten unverständlich erscheinen. Da verlieren viele auf der Social-Media-Plattform die Contenance: Energiekrise, welche Energiekrise? Blockwartmethoden! Manche verheddern sich in einen Wirrwarr aus Emotionen zum Krieg in der Ukraine, zu den Sanktionen der EU oder zum Münchner Oktoberfest – obwohl es hier nur um die prosaische Frage geht, ob man die Herbstluft mit Heizgeräten erwärmen muss, wenn alle Haushalte zum Sparen aufgefordert werden.
Auch die Toleranz ist müde geworden, ob in der digitalen oder in der analogen Welt. Es gibt kein Aushalten des anderen mehr und kein Verständnis für die andere Sicht. Der Ton wird immer gehässiger, auch wenn der Furor für die Austeilenden oft auch das bedeuten kann, was der römische Philosoph Seneca einst so beschrieb: Die Bosheit trinkt die Hälfte ihres eigenen Giftes. Gemeinheit schwächt nicht nur den einzelnen, gefangen in sinnentleerten Konflikten, sie schwächt auch die Gesellschaft.
Diese ist ohnehin durch die unterschiedlichen Freiheitsbegriffe herausgefordert, die auseinanderdriften. Seit der Pandemie hat sich das Bild der negativen Freiheit bei vielen verfestigt. Jener Vorstellung, die das Freisein von Zwängen als Ideal propagiert, also die Freiheit von staatlichen Eingriffen. Doch neben der Freiheit, zu rauchen, seine Meinung ohne Zensur äußern zu können oder sich nicht impfen zu lassen, gibt es größere Ideen von Freiheit. Der deutsche Sozialphilosoph Axel Honneth nennt hier etwa die reflexive Freiheit, wonach der Mensch frei sei, selbst gewählten moralischen Überzeugungen zu folgen. Und er spricht von einer sozialen Freiheit, die wir überhaupt nur in Mitwirkung und Austausch mit anderen erzielen könnten.
Dieses Ziel bleibt weit entfernt. Man kann allerdings aus der Pandemie Lehren für den Umgang mit der Energiekrise ziehen. Alle Gruppen und deren Bedürfnisse haben ihre Berechtigung: Die Haushalte, die systemrelevante Infrastruktur, die Industrie, die Wirtschaftsbetriebe, die Gastronomie und Kulturinstitutionen. Man kann nur gesellschaftlich ausverhandeln, wo man Prioritäten setzen muss und politisch entscheiden, wie man jene, die existenziell getroffen werden, mit effektiven Maßnahmen unterstützen kann. Und sich nicht mit Heizschwammerl-Disputen aufhalten.
Auch die Toleranz ist müde geworden, ob in der digitalen oder in der analogen Öffentlichkeit.
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.
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