Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Reflexe

Politik / 17.07.2023 • 06:30 Uhr

Ein Reflex ist eine unwillkürliche, rasche und stets gleichartige Reaktion eines Organismus auf einen bestimmten Reiz (Wikipedia). Das hat für die menschliche Gesundheit viele Vorteile. Unwillkürliche, rasche und stets gleichartige Reaktion: Davon wird zusehends unsere Politik dominiert. Jüngstes Beispiel: 17 europäische Mitglieder oder Bald-Mitglieder der NATO (Finnland und Schweden) haben sich auf das Raketen-Abwehr-System „Sky Shield“ geeinigt. Österreich will daran teilnehmen. Mehr als diese Ankündigung hat es nicht gebraucht. Reflexartige Ablehnung durch FPÖ-Chef Kickl: „Verheerende neutralitätspolitische Entscheidung“. Als bekannt wurde, dass auch die neutrale Schweiz beitreten will, wurde es plötzlich ruhig bei der FPÖ.

„Es kommt ein Vorschlag und sofort ist man zunächst einmal dagegen.“

Als der Ukraine-Krieg ausbrach und Österreichs Rolle bei der Hilfestellung diskutiert wurde, meinte Kanzler Nehammer reflexartig: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral und Österreich wird auch neutral bleiben. Für mich ist die Diskussion beendet.“ Genau das ist das Kernproblem der politischen Reflexe. Es kommt ein Vorschlag und sofort ist man zunächst einmal dagegen. Man diskutiert nicht einmal darüber. Bei Nehammers und Kickls Verhalten zur Neutralität ist das besonders skurril.

Vor gut 20 Jahren hat der ÖVP-Kanzler Schüssel – damals hatten Kanzler noch Format – die Neutralität mit Mozartkugeln und Lipizzanern verglichen, offenbar weil sie in der derzeitigen Form eher nostalgischen Charakter hat, und einen NATO-Beitritt nach vorhergehendem Volksentscheid zur Diskussion gestellt. Das wurde von FPÖ-Chef Haider spontan begrüßt. Das haben ihre Nachfolger offenbar verdrängt und ignorieren, dass Österreich seit dem EU-Beitritt längst in europäische Sicherheitsstrukturen eingebettet ist.
Reflexartig verläuft auch die Diskussion über den EU-Vorschlag, die Gentechnik in der Pflanzenzucht neu zu regeln. In Zeiten des Klimawandels sollen innovative Technologien für eine nachhaltige Landwirtschaft genutzt werden. Reflexartige Kritik beider Regierungsparteien. Von den Grünen sagen Gewessler und Rauch sowie Totschnig von der ÖVP: „Inakzeptabel“. Die heimische Wissenschaft aber hat überwiegend positiv reagiert. „Ein Schritt in die richtige Richtung, es kann das Potenzial der Forschung besser ausgeschöpft werden“, sagt der Präsident der Akademie der Wissenschaften, Heinz Faßmann. Ei, ei: Der Mann war einmal Minister und hat sich dennoch die Bereitschaft zu einer sinnvollen Debatte bewahrt.

Warum wird die Politik oft von Reflexen beherrscht? Ich befrage ChatGPT, also Künstliche Intelligenz (KI), die zumindest in Österreich angesichts ihrer immensen Bedeutung in der Politik nur ansatzweise, also viel zu wenig und nicht einmal reflexartig, diskutiert wird. Die Antwort von ChatGPT: „Politiker stehen unter ständiger Beobachtung der Öffentlichkeit und der Medien. Dadurch fühlen sich Politiker dazu gedrängt, schnell zu handeln, um den Erwartungen der Wählerinnen und Wähler und den Anforderungen der Medien gerecht zu werden.“ Viel deutlicher hat sich vor Jahren der (gescheiterte) SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück zu den Medien ausgedrückt: „Getrieben vom Wunsch, auch in Zeiten digitalisierter Beschleunigung mitzuspielen und unter zunehmendem wirtschaftlichem Druck, erschweren die Medien politische Entscheidungen durch falsche Skandalisierung und die Missachtung gelungener politischer Prozesse, die sie wegen fehlender Dramatik links liegen ließen.“

Ob das stimmt, darüber können sich mündige Medienkonsumenten Tag für Tag ein Bild machen.

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.