Das schlimmste Blutbad

Die Hamas hat ein nie dagewesenes Blutvergießen unter israelischen Zivilisten angerichtet.
Tel Aviv, Gaza Es ist das schlimmste Blutbad unter israelischen Zivilisten an einem Tag seit dem Unabhängigkeitskrieg 1948. Das Land ist nach dem Überraschungsangriff der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas in einem tiefen Schockzustand. Mehr als 600 Menschen wurden getötet, als militante Palästinenser am jüdischen Feiertag „Freude der Tora“ in israelische Ortschaften eindrangen und auf der Suche nach Opfern von Haus zu Haus gingen. Mehr als 100 Israelis, darunter auch Frauen, Kinder und alte Leute, wurden auf brutale Weise in den Gazastreifen verschleppt. 260 Leichen von Jugendlichen, die an einem Festival in der Negev-Wüste teilgenommen hatten, wurden geborgen. Tausende von Raketen wurden seit Samstag auf Israel abgefeuert.
Trauma, historische Demütigung
Viele beschreiben den Zustand eines Traumas und der Lähmung nach dem Massaker im Grenzgebiet als „Israels 9/11“ – vergleichbar mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf die Zwillingstürme in New York. Als besonders symbolisch gilt, dass der Großangriff der Hamas, die von EU, USA und Israel als Terrororganisation eingestuft wird, 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg geschah. Auch damals versagten Geheimdienst und politische Führung, als sie vom Angriff arabischer Staaten unter Führung Ägyptens und Syriens völlig überrascht wurden.
Die Hamas-Anschlagsserie im Grenzbereich sowie die Verschleppungen israelischer Bürger haben bei Hunderten von Familien schweres Leid verursacht. Eine verzweifelte Mutter, deren Kind vermisst wird, schrie am Sonntag einen israelischen Abgeordneten in äußerster Wut an: „Wo ist dieses Land? Wann werdet ihr endlich aufwachen?“
Auch Adva Adar weinte bitterlich, als sie von der Entführung ihrer 85-jährigen Großmutter in den Gazastreifen erzählte. Die alte Frau aus einer Ortschaft am Rande des Gazastreifens habe am Samstagmorgen am Telefon erzählt, sie habe draußen Schüsse und laute Rufe auf Arabisch gehört. Seitdem sei der Kontakt mit Jaffa Adar abgebrochen. Das Haus habe man später verbrannt vorgefunden.
„Auf Facebook haben wir dann Videos von der Hamas gesehen, wie sie mitgenommen wird“, sagte die Frau. „Sie ist 85 Jahre alt und krank, hat ihre Medikamente nicht dabei. Ich bin sicher, dass sie sehr leidet.“
Wie konnte es passieren, dass trotz der scharfen Grenzkontrollen Dutzende militanter Palästinenser über Land, See und die Luft nach Israel vordringen und dort über Stunden Hunderte Zivilisten niedermetzeln konnten? Zu Tode geängstigte Einwohner der Grenzorte beklagten, sie hätten teilweise über Stunden vergeblich auf Hilfe der Sicherheitskräfte gewartet. Sogar ein israelischer Panzer wurde gekapert. Ein Journalist spricht von der „größten Schande in der Geschichte der israelischen Armee“. Auch 26 Soldaten und Soldatinnen sind unter den Toten.
Israel ruft den Kriegszustand aus
Wer wird den Preis für dieses Versagen zahlen? „Ich bin sicher, dass es später große Debatten geben wird“, sagte der israelische Militärsprecher Richard Hecht am Sonntag. „Aber jetzt konzentrieren wir uns darauf, die Kontrolle wiederzugewinnen und Leben zu retten. Wir werden darüber sprechen, wenn wir den Krieg beendet haben.“
Das Sicherheitskabinett um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu rief am Sonntag den Kriegszustand aus. Dies erlaube „weitreichende militärische Schritte“. Es wurden bereits Tausende von Reservisten einberufen, die Armee begann mit der Evakuierung der israelischen Grenzorte.
Kommt nun eine Bodenoffensive im Gazastreifen? Ein Vordringen der Armee in das besonders dicht besiedelte Gebiet birgt neue große Risiken. Versuche, die vermutlich in unterirdischen Tunneln versteckten Geiseln zu retten, wären ein gefährliches Wagnis mit ungewissem Ausgang. Die Hamas will offenbar versuchen, Häftlinge in israelischen Gefängnissen freizupressen. Netanjahu nannte als Ziel der Operation „Iron Swords“, die Kapazitäten der Hamas und des Islamischen Dschihad für viele Jahre komplett zu zerstören. Auch die Stromleitungen in den Gazastreifen wurden gekappt, und der Export von Brennstoff und Waren in den Gazastreifen wurde gestoppt.
Als Reaktion auf den tödlichen und demütigenden Großangriff bombardierte die israelische Luftwaffe in mehreren Wellen Ziele der Hamas im Gazastreifen. Dabei wurden bereits mehrere Hundert Menschen getötet. Zahlreiche Zivilisten suchten Schutz in UN-Schulen.
Es herrscht nun Sorge, der Konflikt könnte noch größer werden, sich etwa auf den Libanon im Norden ausweiten. Die libanesische Schiitenorganisation Hisbollah feuerte am Sonntag bereits Raketen auf das israelische Grenzgebiet. Israels Armee reagierte mit Artilleriefeuer. Die Solidaritätsbekundigungen der pro-iranischen Hisbollah mit der Hamas klingen zumindest so, als würden sie einen Einstieg in die Kämpfe nicht ausschließen.
Sorge vor Anschlägen weltweit
Der Nationale Sicherheitsrat hatte Israelis bereits zur erhöhten Wachsamkeit bei Reisen ins Ausland aufgerufen. Ein tödlicher Anschlag auf israelische Touristen in Ägypten bestätigte am Sonntag die Sorgen. Auch in Österreich wurde wegen der Eskalation in Nahost die Überwachung israelischer Einrichtungen verstärkt, etwa wegen pro-palästinensischer Demonstrationen mitten in Wien – vor Präsidentschaftskanzlei und Kanzleramt.




