Christian Rainer

Kommentar

Christian Rainer

Wen Sie wählen werden

Politik / 07.06.2024 • 16:32 Uhr

Am Sonntag wird das Parlament der Europäischen Union gewählt. Darüber werden Sie hier und heute lesen. Aber schon der Titel dieses Kommentars ist irreführend. Denn weder habe ich die geringste Ahnung, wen Sie wählen werden. Noch werde ich Ihnen hier vermitteln können, wen sie wählen sollen. Der Titel ist also Bauernfängerei. Aber vielleicht nicht nur: Lassen Sie mich heute einige Sätze über jene Parteien schreiben, die eine realistische Chance haben, im EU-Parlament vertreten zu sein. Reihenfolge: das Ergebnis von 2019.

Die ÖVP. Sie wird weit hinter den, vom Populismus des Sebastian Kurz getriebenen 34,5 Prozent zu liegen kommen. Wer die Volkspartei wählt, kann wenig falsch machen. Karl Nehammer – der heimliche Spitzenkandidat – leistet als Bundeskanzler und international solide Arbeit. Seinen jüngsten Treueschwur für den Verbrennermotor – wider die eigenen Beschlüsse in Brüssel – werten wir aber als plumpen Versuch, zumindest den zweiten Platz zu erreichen. Und weil es um das Thema Klima geht, nehmen wir ihm das übel. Reinhold Lopatka ist politisch erfahren, aber leider noch mehr alter weißer Mann als der Autor dieser Zeilen.

Die SPÖ wird wohl irgendwo rund um ihr Ergebnis von 2019 – 23,89 Prozent – landen. Aber unter ganz anderen Vorzeichen. Spitzenkandidat Andreas Schieder ist zwar ähnlich solide wie Lopatka, erfahrener in der EU und weniger alt und weiß. Aber an der Spitze der Partei steht nun Andreas Babler. Vor zwei Tagen erklärte mir ein ehemaliges rotes Regierungsmitglied, seine Programmatik sei „pubertär“, er habe sich „noch nicht von seiner Zeit in der Sozialistischen Jugend emanzipiert“. So hatte ich das bisher nicht gesehen. Ich hatte Bablers linke Standpunkte als von Überzeugung getragene Kampfrhetorik abgetan. Das SPÖ-Ergebnis wird – mehr als jenes der ÖVP – das interne Standing des Parteivorsitzenden mit Blick auf die Nationalratswahl bestimmen.

Die FPÖ. Es ist mir wie den meisten Journalisten in Österreich unmöglich, die positiven Seiten dieser Partei zu beschreiben. Vielleicht so viel: Man hat früh erkannt, dass Migration zum Problem für den Kontinent wird – und zur Chance für rechtsextreme Parteien. Die FPÖ ist genau das: verhetzend, korrupter als die anderen Parteien, der Wissenschaft oft abgewandt, Russland zugewandt, unfähig beim Regieren im Bund. Vor allem mit Bezug auf Europa: Der Parteiobmann und der Spitzenkandidat zeichnen ein feindliches, von Opportunismus getragenes Bild der EU. Das hat sich die EU nicht verdient.

Die Grünen hatten Pech. Lena Schilling wurde beim Schummeln erwischt und fliegt deshalb von der Schule. Höchststrafe für bösen Tratsch und ein recht öffentliches Privatleben – das ist zu viel. Aber Schilling ist die Spitzenkandidatin, und nun ist sie auch das Gesicht einer Regierungspartei – dafür bietet sie wenig. Schade: Die grünen Themen werden das Leben und das Überleben der Generation Schilling bestimmen. Also vielleicht doch nicht Höchststrafe am Sonntag.

Neos. Keine Partei hat einen ähnlich hohen Anteil von gebildeten und artikulationsfähigen Abgeordneten im Nationalrat. Zu ihnen gehört der Spitzenkandidat. Ich kenne Helmut Brandstätter als Kollegen unter Chefredakteuren. Und hatte genau deshalb nicht unbedingt erwartet, dass er sich in die Materie einarbeiten und in die Partei einordnen würde. Hat er aber. Die Positionen von Neos: divers und daher bisweilen schwammig; diskursfreudig und daher ziemlich ehrlich.

Ich habe am Dienstag per Briefwahl gewählt. Wen werden Sie wählen?