Gerald Loacker tritt ab: Ein Neos-Urgestein sagt der aktiven Politik Lebewohl

Gerald Loacker hat genug: Vom Nationalrat wechselt er in die Privatwirtschaft. Im Abschiedsgespräch mit den VN offenbart er Einblicke in seine Beweggründe, erzählt in seinem fast leeren Büro, woran er sich die Zähne ausgebissen hat, und welche Momente ihn besonders berührt und unterhalten haben.
Wien Am 29. Oktober 2013 wurde Gerald Loacker als Neos-Abgeordneter im Nationalrat angelobt. Fast auf den Tag genau zehn Jahre später, am 30. Oktober 2023, verkündete er das Ende seiner politischen Karriere. Er kandidiert nicht mehr für ein Amt. Die VN trafen Loacker in Wien zum Abschiedsgespräch. Das Büro ist schon fast leer geräumt, auf der Kleiderstange hängt ein schwarzer Hoodie mit mürrischer Katze und der Aufschrift “Retired. Not my Problem anymore”. Im einst dicht gefüllten Bücherregal stehen nur noch zwei Bücher, jene von Parteikollegen Helmut Brandstätter und Beate Meinl-Reisinger. “Wendepunkt” heißt das Buch seiner bald Ex-Chefin. Durchaus auch Titel der neuen Lebensphase.
Wie war der erste Tag als Nationalratsabgeordneter?
Ich war schon am Vortag da und habe die administrativen Dinge mit der Parlamentsdirektion erledigt und schon einmal hineingeschaut in den Saal. Ich bin mit großem Respekt in dieses Haus gekommen. Und mit der Erwartung, dass da sehr viele, sehr kluge Leute sind.
Ist diese Erwartung erfüllt worden?
Es sind schon kluge Leute da. Aber es sind dann nicht so viele, wie man sich vielleicht gewünscht hätte. Man würde ja schon annehmen, dass die Parteien ihre besten Leute dorthin schicken. Aber ich glaube, die Auswahlverfahren funktionieren nicht immer optimal.
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Woran haben Sie sich die Zähne ausgebissen?
Mir war schon klar, wir sind in der Opposition, wir sind die kleinste Partei, wir reißen da keine Bäume aus. In meinen Themenbereichen Arbeit und Soziales ist es heute schlechter als bei meinem Einstieg 2013.
Was sehen Sie positiv?
Das Thema Pensionen und Finanzierbarkeit ist präsenter, als es damals war. Das geht sicher auch auf die Arbeit von NEOS und damit auch auf meine zurück. Aber inhaltlich bewegt sich das System weg von der Richtung, in die man sich eigentlich bewegen sollte.
Wo müsste es stattdessen hin?
Wenn das System auch in 50 Jahren noch finanzierbar sein soll, muss man mit der steigenden Lebenserwartung der Menschen umgehen. Wir müssen die Frage lösen, wie wir einen Teil der zusätzlichen Lebenserwartung im Erwerbsleben verbringen können. Und das findet nicht statt. Die Österreicher gehen im Schnitt im selben Alter in Pension wie 1970, leben aber 13 Jahre länger als damals. Und die Frage ist ungeklärt, was wir mit der zusätzlichen Zeit machen. Da habe ich mir die Zähne ausgebissen, das muss man sagen.

Nicht nur Inhaltliches, auch das politische System haben Sie oft kritisiert. Aber funktioniert das politische System im Großen und Ganzen?
Viele Dinge funktionieren. Das hat man sehr schön gesehen, als wir aufgrund dieser Wahlkartenprobleme und aufgehobenen Präsidentenwahl einige Monate keinen Bundespräsidenten hatten. Die Republik hält das aus. Das würde nicht jedes Land aushalten. Was nicht funktioniert, ist die Selbstreinigung. Das System hat keine Kraft sich von Personen zu lösen, die nicht für das Gemeinwesen, sondern nur für sich arbeiten.
Haben Sie da ein Beispiel?
Wir haben keine Lösung dafür, was wir mit einem Nationalratspräsidenten machen, der auf alles pfeift, was wir bisher für wichtig und richtig gehalten haben. Es ist zum Beispiel auch verboten, drei öffentliche Bezüge zu haben, aber wenn einer drei hat, hat es keine Konsequenzen. Ich habe da einen Freiheitlichen erwischt, der drei Bezüge hatte und alle zuständigen Ministerien fühlten sich als nicht zuständig. Oder wenn es in der Wirtschaftskammer zu einer nachgewiesenen Wahlfälschung kommt, und der Wirtschaftsminister die Aufsichtsbehörde ist, aber nichts macht.
Welche drei Dinge würden Sie sofort am politischen System ändern?
Ich würde als Erstes die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern aufheben. Es wird unterschätzt, wie viel da an Geld, Personal und Know-how – speziell aus den großen Kammern – in die zwei traditionellen Parteien fließt. Das erzeugt eine Schieflage. Dann würde ich den Föderalismus ändern. Und zwar müssen Länder und Gemeinden, die Einnahmen für ihre Aktivitäten selbst einheben, damit die Verantwortung für Einnahmen, Ausgaben und Aufgaben zusammenfällt. Jetzt haben wir einen Spendierföderalismus. Der Bund hebt die Steuern ein und die Länder geben das Geld aus. Und keiner hat die Verantwortung dafür, gut zu wirtschaften. Und dann muss man diesen Bundesrat abschaffen, weil er wirklich für die Katz ist.
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Warum waren Sie eigentlich nie Spitzenkandidat für die Vorarlbergwahl?
Matthias Stolz wollte 2014, dass ich das mache und ich wollte nicht. Ich war frisch in den Nationalrat gewählt. Das hat für mich nicht gepasst. Das Wahlergebnis hat ja Sabine Scheffknecht auch Recht gegeben. Insofern war das eine sehr gute Aufgabenteilung.
Haben Sie es bis zu einem gewissen Grad genossen, eine polarisierende Persönlichkeit in der politischen Landschaft zu sein?
Gemütlich ist das nicht. Aber eine kleine Partei braucht Reibung, um die Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten. Das ist ein Grenzgang. Aber wenn man immer zu nett und zu weich formuliert, kommt man gar nicht vor und wird gar nicht wahrgenommen. Und das ist für eine Mitte-Partei super gefährlich.

Ist der Umgangston rauer geworden in den vergangenen Jahren? Sie haben auch Twitter verlassen.
Ja. Die Diskussion hat sich verkürzt. Früher hat man ein Facebook-Posting abgesetzt, da kann man noch fünf, sechs Zeilen lang etwas erklären. Heute muss ich auf Instagram in 20 Sekunden alles gesagt haben. Viele Bürger haben Politikern gegenüber eine Tonlage entwickelt. Das merkt man auch sonst im Alltag, wenn man mit offenen Augen und Ohren beobachtet, was da passiert. Die Beschimpfungen fliegen einem entgegen. Was 2013 noch von anonymen Accounts geschickt wurde, wird heute mit Name und Adresse geschickt. Schimpfwörter, die ich nicht im aktiven Wortschatz habe.
Mit welchem Gefühl blicken Sie auf die nächste Nationalratswahl?
Auf die Wahl selbst schaue ich optimistisch. Auf die Zeit danach nicht. Die Regierung, die danach kommt, wird keine sein, die Freude und Optimismus auslöst. Es wird Ibiza II werden.
Vorarlberg war zuletzt stark vertreten im Nationalrat und in der Regierung.
In der abgelaufenen Periode hatten Vorarlberger Abgeordnete in ihren Fraktionen meist überdurchschnittliche Verantwortung gehabt. Karl-Heinz Kopf, Vorsitzender des Finanzausschusses, Norbert Sieber, Vorsitzender des Familienausschusses, Nina Tomaselli, Fraktionsführerin im U-Ausschuss, Reinhold Einwallner, Fraktionsführer im BVT-U-Ausschuss, und innenpolitischer Sprecher. Ich bin stellvertretender Klubobmann und Klubordner. Wir haben keine Hinterbänklerkultur unter den Vorarlbergern. Wir sind in unseren Fraktionen alle vorne dabei. Aber das wird es auch danach wieder geben, mit neuen Leuten. Denn wer sich das antut, regelmäßig nach Wien zu pendeln, der macht das nicht, um sich in die letzte Reihe zu setzen.
Was ist eine Ihrer skurrilsten Erinnerungen im Hohen Haus?
Als unter Schwarz-Blau die Arbeitszeitflexibilisierung beschlossen wurde, wollte die ÖVP diesen Antrag dem Wirtschaftsausschuss zuweisen, aber Arbeitszeitgesetze gehören in den Ausschuss für Arbeit und Soziales. Im Zweifel entscheidet der Präsident. Damals musste Doris Bures dem Wolfgang Sobotka erklären, dass er jetzt entscheidet, weil er das gar nicht gewusst hat.
Und was war der berührendste Moment?
Als ich meinen letzten Wirtschaftsausschuss hatte, und die Kollegen von den anderen Fraktionen sich dann noch einmal ausdrücklich bei mir bedankt haben für die Zusammenarbeit und sehr viel Wertschätzung zum Ausdruck bekommen ist, in einer nicht-öffentlichen Sitzung. Das hat mich schon persönlich sehr gefreut, weil bei aller inhaltlichen Schärfe der Auseinandersetzung, wenn dann doch noch persönliche Wertschätzung bleibt und mittransportiert wird, dann sind Dinge richtig gelaufen.
Das passt zur nächsten Frage: Streiten Abgeordnete nur vor der Kamera?
Wer inhaltlich Erfolg haben will, wer etwas bewegen will, muss in allen Parteien offene Gesprächskanäle haben. Ich muss in allen Parteien Abgeordnete haben, die ich anrufen kann, mit denen ich so sprechen kann, dass beide wissen, das landet morgen nicht in den Medien.
Wie war das letzte Jahr, mit dem Wissen, dass die Politik nun einmal hinter Ihnen liegt?
Als ich mich von der Aufgabe gelöst habe, habe ich an Luft gewonnen: Freie Zeit und freier Kopf, um mich anders auszurichten. Und es gibt viel Zeit, sich mit dem Abschied anzufreunden. Wenn ich mir andere Kollegen anschaue, macht das einen riesigen Unterschied, wenn man selbst entscheidet, dass man geht. Das ist ganz anders, als wenn man irgendwie nicht will.
Was waren die ausschlaggebenden Gründe für den Schlussstrich?
Mit 50 kann ich noch etwas starten. Und auch die Frage, was mich noch lockt. Wenn wir in der Regierung sind, dann wäre für mich die unangenehmste Rolle übrig geblieben: Arbeits- und Sozialpolitik in einer Dreiparteienkoalition. Da gibt es wenig zu gewinnen für uns. Und in der Opposition hätte ich halt noch fünf Jahre über Pensionen und Kammern gesprochen. Mit wenig Aussicht auf Erfolg.

Wie geht es nun weiter für Sie?
Ich werde bei der Firma BWI als geschäftsführender Gesellschafter einsteigen. Die Firma ist spezialisiert auf Vergütungssysteme, Gehaltsvergleiche, Gehaltsbenchmarking, hat dazu auch eigene Software entwickelt, die Unternehmen nützen können. Das passt zu meinem beruflichen Werdegang als Personalleiter und als Gerichtssachverständiger für Berufskunde.
Zum Schluss noch Ihre Prognosen: Wieviel Prozent werden die NEOS bei der Nationalratswahl holen?
Wir werden hoffentlich dazugewinnen.
Und zwei Wochen später in Vorarlberg?
Werden wir vermutlich noch einen etwas stärkeren Zugewinn haben.
Und eine Rückkehr ist völlig ausgeschlossen?
Ich stehe nicht auf der Nationalratsliste und nicht auf der Landtagsliste. Und damit ist eine Rückkehr jetzt ausgeschlossen.
Jetzt?
Ja, weil ich nicht weiß, was in zehn Jahren ist. Aber ich glaube, aufgewärmt ist nur ein Gulasch gut.
