Christian Rainer

Kommentar

Christian Rainer

Ein Kronzeuge gegen Sebastian Kurz

Politik / 29.11.2024 • 16:23 Uhr

Vor zwei Wochen schrieb ich hier, wir sollten bei Gelegenheit über die Auswirkungen von anhängigen Verfahren und dem Beschuldigtenstatus auf öffentliche Ämter sprechen. Und im jüngsten Kommentar meinte ich, wir würden uns noch öfter mit Sebastian Kurz auseinandersetzen müssen. Schon passt es: Justizministerium und Oberstaatsanwaltschaft haben Thomas Schmid nach zweijährigem Bangen (seinem Bangen) nun den Status eines Kronzeugen zugesprochen. Sie erinnern sich: Schmid war Spitzenbeamter, ÖBAG-Chef und einer der engsten Vertrauten des damaligen Bundeskanzlers Kurz. Den belastet Schmid schwer – es geht um politisch motivierte Postenbesetzungen und via Ministerium bezahlte ÖVP-Inserate.

Wenn ich jetzt schreibe „Es gilt die Unschuldsvermutung“ sind wir bereits mitten im Thema. Tatsächlich denke ich, dass wir diese Unschuldsvermutung ernster nehmen müssen. „Wir“, das sind die Medien und damit die Öffentlichkeit. Regelmäßig hören wir, dass Verfahren – oft nach vielen Jahren – eingestellt werden. Vergangene Woche etwa las ich von einem jetzt endlich beendeten Verfahren, bei dem es um mutmaßlich veruntreute Schilling-Beträge ging.

Nicht falsch verstehen: Das ist keine Kritik an der Justiz. Die Mühlen mahlen eben langsam und oft ergebnislos. Aber ein Anfangsverdacht muss dennoch untersucht werden und das dauert eben Jahre. Umgekehrt gehen Beschuldigte dabei regelmäßig finanziell und psychisch zugrunde, ganze Familie kollabieren. Ein ostdeutscher Bürgermeister, ein westösterreichischer Spitzenpolitiker, ein ehemaliger Raiffeisen-Banker, der Benko-Aufsichtsrat – ich habe nachgezählt und komme auf sechs prominente Personen, die mir in den vergangenen 14 Tagen ihr entsprechendes Leid klagten. Richtig: Das ist die Elite, und die kann sich die Anwaltskosten leisten. Aber dennoch.

Wie damit umgehen: Die einzige Möglichkeit sehe ich tatsächlich darin, dass wir ein entspannteres Verhältnis zu in Gerichtsverfahren involvierten Personen finden. Eine Anzeige, Hausdurchsuchungen, eine Anklage, eine Entscheidung in erster Instanz dürfen in uns nicht das Bild einer Vorverurteilung erzeugen. Die Unschuldsvermutung muss auch als solche gelten.

Und jetzt kommen wir spät aber doch zu Sebastian Kurz. Er wurde ja – nicht rechtskräftig – verurteilt, und er hat eine Handvoll weitere Verfahren zu gewärtigen, die durch den Kronzeugenstatus von Thomas Schmid noch brisanter werden. Mein Eindruck: Kurz schert sich in seiner Zukunftsplanung nicht um diese Verfahren. Er will um jeden Preis zurück in die Politik (jetzt um einige Millionen reicher).

Ich halte folgendes Szenario für möglich (und ich weiß, dass es in ÖVP- und Industriellen-Kreisen ventiliert wird): Die Koalition von Volkspartei, Sozialdemokraten und Neos kommt zwar zustande, scheitert aber alsbald im inhaltlichen und persönlichen Zerwürfnis. Es gibt Neuwahlen. Bei diesen Neuwahlen braucht die ÖVP einen neuen Spitzenkandidaten. Und der hieße Sebastian Kurz. Nur ihm traut man zu, dass er die FPÖ auf den zweiten Platz verweist – und dann als Kanzler mit Herbert Kickl als seinem Vize eine schwarz-blaue Regierung bildet. Völlig unabhängig davon, ob Kurz rechts- oder nicht rechtskräftig verurteilt wurde und wie viele Verfahren noch laufen.

Ich gestehe: Angesichts dieses Szenarios muss ich meinen Wunsch nach größerer Ernsthaftigkeit im Umgang mit der Unschuldsvermutung noch einmal überdenken. Zumindest im Zusammenhang mit ehemaligen Bundeskanzlern.