„Es ist keine Strategie zu sagen, dass die Ukraine gewinnen muss”

Verhandlungen oder weitere Eskalation: Der Vorarlberger Militärkommandant warnt davor, dass Russland Tag für Tag stärker werde.
Bregenz Die Welt befindet sich wieder im Kalten Krieg. Davon ist der Vorarlberger Militärkommandant Gunther Hessel mit Blick nach Russland überzeugt. Die gegenseitigen Bedrohungen und die Spirale der Eskalation seien in Kombination mit dem heißen Krieg in der Ukraine allgegenwärtig. „Wir müssen sehr aufpassen, dass das ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bleibt.“ Hessel hofft auf Verhandlungen statt „Prinzipienreiten“. „Es ist keine Strategie zu sagen, dass die Ukraine gewinnen und Russland verlieren muss, weil es so keinen Spielraum für Verhandlungen gibt. Das wiederum bedeutet immer Eskalation.“

Dieser Krieg gegen Russland sei nicht mehr zu gewinnen, sagt Hessel. „Die Ukraine wird nicht in der Lage sein, mit Unterstützung des Westens die besetzten Gebiete und die Krim zurück zu erobern, außer die Nato tritt in den Krieg ein. Das will hoffentlich niemand in Europa.“ Ein schmerzlicher Waffenstillstand sei viel besser als eine weitere Eskalation. „Ich bin mir manches Mal nicht sicher, ob sich Politiker bewusst sind, was dieser Krieg an Leid, Zerstörung und Gefahr bedeutet.“
Zehntausende Tote
Die Bilanz der russischen Aggression in der Ukraine ist verheerend: Mehr als 12.000 getötete Zivilisten, Zehntausende gefallene Soldaten, rund 300.000 Kriegsversehrte allein auf ukrainischer Seite sowie Dutzende zerstörte Orte.

Auf russischer Seite sind Schätzungen zufolge über 115.000 Soldaten gefallen und mehr als eine halbe Million verwundet. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besteht auf einen kompletten Abzug der russischen Truppen aus dem international anerkannten Staatsgebiet und darauf, die Perspektive auf einen Nato-Beitritt zu behalten. Beides wiederum lehnt Russland ab.
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Die Nato sieht keine Priorität im Beitritt der Ukraine. Vielmehr gehe es darum, alles dafür zu tun, Selenskyj in eine Position der Stärke zu bringen, damit dieser – wenn er es für richtig halte – Gespräche mit den Russen aufnehmen könne, erklärte Nato-Generalsekretär Mark Rutte diese Woche. Weitere Lieferungen von Luftverteidigungssystemen und anderen Waffen werden diskutiert.

„Ich bin beruhigt, dass man einen Nato-Beitritt vorerst nicht in den Raum gestellt hat“, betont Hessel. „Es kann aus meiner Sicht nur einen Waffenstillstand und vielleicht Frieden geben, wenn man diese Option ausklammert.“
“Russland wir von Tag zu Tag stärker”
Ein Einfrieren des Konflikts sei mittlerweile die einzige Lösung. „Da geht es um die Politik des Interessensausgleichs.“ Russland wolle verhindern, dass die Ukraine NATO-Mitglied werde und es wolle ungehinderten Zugang zum Schwarzen Meer. „Es geht Wladimir Putin aber sicher nicht darum, mit der NATO in den Krieg zu treten.“ Gleichzeitig warnt der Militärkommandant: „Je länger dieser Krieg dauert, umso mehr spielt das Putin in die Karten. Russland wird von Tag zu Tag stärker, weil die Rüstungsindustrie in diesen Kriegsjahren optimiert wird, weil es im gefechtstechnischen, taktischen und operativen Bereich ganz viel Erfahrung sammelt. Wenn man glaubt, Russland durch diesen Krieg zu schwächen, liegt man falsch.“

“Ich weiß nicht, worauf wir noch warten sollten”
So weiter machen wie bisher ist für Hessel also keine Option. „Wir müssen aufpassen, dass Russland nicht die Oberhand gewinnt.“ Der Krieg könne noch Jahre dauern. „Irgendwann wird der Ukraine aber der personelle Atem ausgehen – es gibt schon viele Deserteure, 60.000 nur heuer bis zum Oktober.“ Auch die Verhandlungsposition werde sich für die Ukraine nicht mehr bessern. „Die Stärkung ist mit den jüngsten Milliardenzusagen da. Ich weiß nicht, worauf wir noch warten sollten. Man muss so rasch wie möglich beginnen, Verhandlungen zu führen.“