Kommentar: Persönlichkeitswahl
Das Geschehen in den Stadt- und Gemeindevertretungen gilt allgemein als die bürgernächste Form von Politik. Selbst in größeren Gemeinden sind die handelnden Personen persönlich bekannt, die Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten liegen vor der Haustüre und sind in der Regel gut überschaubar. Daher möchte man eigentlich meinen, das Interesse an Gemeindewahlen sei besonders hoch, jedenfalls höher als bei den auf Landes- und Bundesebene zu treffenden Entscheidungen. Aber nur eigentlich. Bei der letzten Nationalratswahl hatten wir in Vorarlberg eine verhältnismäßig hohe Wahlbeteiligung von 72, bei der Landtagswahl von 68 und bei der Bundespräsidentenwahl von 56 Prozent. Bei der Gemeindevertretungs- und Bürgermeisterwahl vom vorletzten Sonntag waren es aber mit einem leichten Anstieg gegenüber 2020 nur 54 Prozent, die Beteiligung an der Wahl zu dem in jeder Hinsicht weit entfernten EU-Parlament lag nur geringfügig darunter. Dass in der Steiermark am Sonntag bei der Gemeindewahl die Beteiligung bei 69 Prozent und damit deutlich über jener Vorarlbergs lag, wäre eine eigene Untersuchung wert.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, in Gemeinden mit nur einem meistens in Vorwahlen zustande gekommenen Wahlvorschlag hatte die Bevölkerung bereits eine Möglichkeit zur Auswahl der zur Wahl stehenden Mandatare und daher für die Stimmabgabe am Wahltag selbst keine besondere Motivation mehr. Häufig ist aber gerade das Gegenteil der Fall. So lag die Wahlbeteiligung in Fontanella mit einer Einheitsliste bei 82 Prozent, in Götzis mit einer Auswahl unter sechs Wahlvorschlägen bei nur 46 Prozent. Häufig befürchtet man auch, dass in einer Stichwahl die Anhänger der ausgeschiedenen Kandidaten interesselos zu Hause bleiben. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber keine nennenswerten Unterschiede in der Beteiligung bei beiden Wahlgängen.
Da als Bürgermeister oder Bürgermeisterin nur Personen kandidieren können, die auf einem Wahlvorschlag für die Gemeindevertretung aufscheinen, liegen die Wahlergebnisse in der Regel nicht weit auseinander. Einen automatischen Gleichklang gibt es aber auch nicht. Die Leute unterscheiden in Einzelfällen durchaus zwischen der Präferenz für eine Person und seine Partei. So liegt beispielsweise in Mittelberg der neue Bürgermeister Joachim Fritz um 75 Prozent über den Stimmen der FPÖ und in Bregenz Michael Ritsch um 27 Prozent über den Stimmen für sein Team Bregenz (früher SPÖ). Umgekehrt kam in Bregenz die grüne Vizebürgermeisterin Schoch nur auf 56 Prozent der Grün-Stimmen für die Stadtvertretung. Wo der Unterschied nicht so groß ist, wie z.B. in Bludenz, gelang es als überraschendstes Ergebnis des Wahlsonntags offenkundig Simon Tschann, nicht nur selbst die Bürgermeisterwahl zu gewinnen, sondern auch die ÖVP mit nach oben zu ziehen und ihr sogar zur absoluten Mehrheit zu verhelfen.
Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates (ÖVP) zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.
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