Kommentar: Die Dunkelheit, die nicht von außen kam

Politik / 13.06.2025 • 08:32 Uhr
Kommentar: Die Dunkelheit, die nicht von außen kam

„Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, ein Satz aus dem Woyzeck von Georg Büchner, ein Autor, der selbst mit 23 Jahren starb. Wir wissen das. Und doch sind wir immer wieder erschüttert, wenn sich dieser Abgrund plötzlich auftut, mitten unter uns, in der friedlichsten unserer Städte, an einem Ort, den niemand mit Gefahr oder Gewalt verbunden hätte – einer Schule am Rande der steirischen Hauptstadt.

Elf Menschen sind tot, meist blutjung, zehn erschossen von einem Mann, von dem wir bislang kaum etwas wissen und der sich dann selbst richtete. Außer, dass er kein Fremder ist. Kein anderer. Kein typischer Täter aus dem Baukasten rechter Projektionen. Es war kein Muslim, kein Flüchtling, kein Mann mit dunkler Hautfarbe. Nur einer von hier. Das allein genügte, um den Reflexapparat der FPÖ kurz zucken zu lassen, ehe man das Posting des Klubobmanns, der ins Xenophobe abgedriftet war, wieder löschte.

Die Geschichte wird jetzt seziert werden. Biografie, Waffenbesitz, Motiv, psychische Gesundheit. Man wird Schuldige suchen, Verantwortung verteilen, Versäumnisse identifizieren. Und ja, natürlich wird man fragen dürfen und müssen, warum ein Mensch in Österreich mit halbautomatischer Waffe herumlaufen kann. Warum Waffen überhaupt noch in Privatbesitz sind, wenn sie – so wie in diesem Fall – offenkundig nicht der Jagd oder dem Sport dienten. Es wird dafür Gründe geben, wie üblich unsäglich schlechte.

Aber das alles erklärt nichts. Nicht das Entsetzen. Nicht die Sprachlosigkeit. Nicht die surreale Wucht eines Morgens, an dem der Tod wie eine kalte Klinge durch eine Gemeinschaft fährt. In einer Stadt wie Graz, in einem Land wie unserem, in einem Frühsommer, der doch harmlos schien.

Und dann, fast eingeübt, das Ritual: Fahnen auf halbmast. Trauerflor. Die Politiker aufgereiht wie in einem Tableau vivant, betroffen, korrekt, erschüttert. Und – etwas überraschend in einem säkularen Land – das religiöse Moment, das sich breiten Raum nimmt: Gedenkgottesdienste, Gebete, Kerzen. Es ist der alte Reflex, das Unbegreifliche ins Religiöse zu schieben, dorthin, wo wir es nicht mehr selbst erklären müssen, dorthin, wo der Tod durch Hoffnung relativiert werden kann.

Doch vielleicht ist der Schrecken nicht irrational, sondern nur tief menschlich. Vielleicht liegt das Grauen gerade darin, dass es zu uns gehört – nicht als Ausnahme, sondern als Möglichkeit. Der Mensch, als Individuum, aber auch als Masse, ist gefährlich unberechenbar. Die Zivilisation, die wir für stabil hielten, ist es nicht. Die Aufklärung, die wir feiern, ist kein abgeschlossenes Projekt, sondern ein jederzeit reversibler Prozess. Und wie die Gegenwart zeigt – in der Ukraine, in Israel und Gaza, überall dort, wo Vernunft vor Gewalt kapituliert –, ist all das, worauf wir hoffen, nicht tief genug in uns eingraviert, um verlässlich zu werden. Der zivilisierte Mensch ist ein dünner Firnis. Darunter liegt stets auch das unberechenbar Böse.

„Nur wer die Menschen liebt, darf über sie weinen“, schrieb ein unbekannter Autor. In diesem Satz steckt auch der Unterschied zwischen echtem Mitgefühl und öffentlicher Betroffenheitslyrik. Zwischen aufrichtiger Trauer und politischem Kalkül liegt eine schmale Grenze. Mir scheint, das Kalkül steht in Österreich derzeit im Hintergrund.

Was bleibt? Traurigkeit. Empathie mit den Angehörigen, deren Leben jetzt unwiderruflich zerschnitten ist. Und vielleicht die stille Hoffnung, dass dieser Moment nicht in das abrutscht, was man die Normalität des Entsetzens nennen könnte. Dass wir nicht lernen, damit zu leben.

Dass wir lieber sprachlos bleiben als abgeklärt.