Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Kommentar: Gegen Denkverbote

Politik / 16.06.2025 • 07:15 Uhr

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat einmal gesagt, dass Denkverbote die Kontrollmechanismen einer Gesellschaft seien, die Angst vor sich selbst hat. Den Beweis bekommen wir aktuell täglich, wenn Autokraten von Trump über Orbán bis Netanyahu verbieten wollen, dass über ihre Vorschläge auch nur nachgedacht wird. Jüngstes Beispiel bei uns: Nach dem Amoklauf von Graz wird quer durch die Politik, angefangen vom Bundespräsidenten, über die Verschärfung der Waffengesetze nachgedacht. Bis auf eine Partei. Die FPÖ lehnt eine Verschärfung kategorisch ab und plädiert für ein liberales Waffenrecht. Da haben wohl einige zu viel Western geschaut und träumen davon, dass der gewinnt, der als erstes zieht. Ich nehme davon ausdrücklich den Vorarlberger FPÖ-Obmann Bitschi oder den steirischen FPÖ-Landeshauptmann Kunasek aus, für die kein Denkverbot über strengere Waffengesetze besteht. Wer nach Graz noch glaubt, dass der leichte Zugang zu Waffen tolerierbar sei, macht sich mitschuldig am nächsten Amoklauf. In den waffenverliebten USA sind gerade zwei Top-Politiker erschossen worden.

Die Rede ist weder von Jägern oder Sportschützen, sondern von immer mehr Menschen, die behaupten, Waffen zur persönlichen Sicherheit zu benötigen. Die Zahl der im Zentralen Waffenregister gemeldeten Waffen ist von knapp 900.000 im Jahr 2015 innerhalb von zehn Jahren auf zuletzt über 1.500.000 gestiegen. Die Zahl der Waffenbesitzer von 254.000 auf 374.000. In Vorarlberg sind die Zahlen unterdurchschnittlich hoch, aktuell sind etwa 11.800 registrierte Waffenbesitzer gemeldet, die gemeinsam rund 41.000 Schusswaffen besitzen.


Die Aversion gegen Denkverbote ist weit verbreitet. Vor drei Wochen wollte Altbundespräsident Fischer (SPÖ) eine Debatte über den politischen Umgang mit dem Gaza-Krieg anschieben, weil man bei Taten, die unter dem Verdacht eines Kriegsverbrechens stehen, nicht schweigen dürfe. Ein Shitstorm mit dem Vorwurf des Antisemitismus war die Folge. Der Kärntner SPÖ-Landeshauptmann Kaiser hat – wie zuvor ÖVP-Kanzler Stocker – darüber nachgedacht, dass man die Europäische Menschenrechtskonvention weiterentwickeln müsse, um das Migrations-Thema aus der Hetzkampagne von Rechtsparteien zu nehmen. Kaiser ist immerhin Verfasser des gültigen Migrations-Papiers der SPÖ, doch seine Partei ist für ein Denkverbot, vom Vorsitzenden Babler („eine Einzelmeinung“) bis zum Wiener SPÖ-Bürgermeister Ludwig. Nun erfordert eine Debatte über die Menschrechtskonvention Fingerspitzengefühl. Namhafte Juristen führen Argumente gegen Änderungen ins Treffen. Aber kann die Antwort sein: Überlasst das Migrations-Thema diskussionslos den Rechtsextremen? Die Rechnung kommt garantiert bei der nächsten Wahl. Georg Knill, Präsident der Industriellenvereinigung, hat über eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters „Richtung 70“ nachgedacht. Er hat auf Dänemark verwiesen, wo ein ähnlicher Schritt im Konsens beschlossen worden sei, und forderte eine ehrliche Diskussion, um das System langfristig zu sichern. Danach Aufschrei der Pensionistenverbände von ÖVP und SPÖ, der Grünen, des ÖGB und – natürlich – der FPÖ („Bashing älterer Arbeitnehmer“).

Wir lernen: Wer ein unpopuläres Thema andenkt oder von der Parteilinie abweicht, kriegt eins auf den Deckel oder riskiert innerparteiliche Isolation. Ideologisches Lagerdenken (von rechts bis links) verhindert oft eine offene Diskussion über sachliche Lösungen. Dabei brauchen wir den politischen Diskurs dringender denn je. Die Fähigkeit zum Austausch der Argumente, die Diskussion über Ideen, die dann möglicherweise in einem Kompromiss endet. Wir denken nicht über Vorschläge anderer nach. Wir stellen Denkverbote auf. Wie sagte doch der Philosoph Richard David Precht: „Ein Denkverbot ist das Ende jeder Demokratie“.

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.