Was von der Neutralität geblieben ist

Politik / HEUTE • 13:44 Uhr
Was von der Neutralität geblieben ist

Bevölkerungsmehrheit für bestehende Form mit Solidarität in der EU: Was aber heißt das?

SCHWARZACH. Josef Müller, Präsident der Vorarlberger Offiziersgesellschaft, ortet eine starke Verankerung der Neutralität in der Bevölkerung, aber „relativ diffuse Vorstellungen“ davon, was sie bedeutet: „Es handelt sich eher um eine Gefühls- als um eine Kopfneutralität“, sagt er. Vielen scheine nicht bewusst zu sein, dass es durch den EU-Beitritt zu einer Verwässerung gekommen ist.

70 Jahre wird die Neutralität mit dem Nationalfeiertag alt. Am 26. Oktober 1955 ist sie beschlossen worden. Das Bundesverfassungsgesetz ist kurz und bündig. Es geht um Unabhängigkeit nach außen und eine Selbstverpflichtung, die immerwährende Neutralität aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Außerdem wird ein Beitritt zu einem Militärbündnis ebenso ausgeschlossen wie die Stationierung fremder Truppen in Land.

Josef Müller
„Es handelt sich eher um eine Gefühls- als um eine Kopfneutralität“, so Josef Müller, Präsident der Vorarlberger Offiziersgesellschaft, zu dem, was er in der Bevölkerung wahrnimmt. Foto: VLK/Serra

Heute hat die Neutralität für die meisten Menschen eine identitätsstiftende Funktion: Laut einer Umfrage, die Forscher der Uni Innsbruck vor wenigen Monaten durchgeführt haben, finden 80 Prozent, sie sei Teil der staatlichen Identität. 69 Prozent sind überzeugt, sie ermögliche es, bei internationalen Konflikten zu vermitteln. Nur 46 Prozent glauben hingegen, dass sie Österreich davor bewahrt, in Kriege verwickelt zu werden und 34 Prozent, das sie vor Angriffen anderer Staaten schützt.

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Der Zugang sei ein „pragmatischer“, erläutert Martin Senn vom Forscherteam. Das kommt auch in den Haltungen zur Zukunft zum Ausdruck: Zwar will kaum jemand zur Nato (zwölf Prozent). Und 36 Prozent fordern umgekehrt die Rückkehr zu umfassender Neutralität. 59 Prozent sprechen sich jedoch dafür aus, bei der gegenwärtigen Form der Neutralität zu bleiben, mit der Solidarität in der EU verbunden ist.

Die Präferenzen sind österreichweit gleich: „Da gibt es keine signifikanten Unterschiede von Vorarlberg bis ins Burgenland“, so Senn. Eine Auswertung der Ergebnisse für Westösterreich untermauert dies: Die Abweichungen sind verschwindend klein.

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Was aber heißt „gegenwärtige Form“ der Neutralität? Es ist, wie von Josef Müller wahrgenommen: Laut Senn ist das Ausmaß der Solidarität in der EU „vielen nicht bewusst“: „Es wäre daher notwendig, auszubuchstabieren, wie groß der Handlungsspielraum ist. Dass Beistand im Falle eines Angriffs auf ein anderes Mitgliedsland nicht bei humanitärer Hilfe aufhören muss, sondern auch militärisch erfolgen kann.“

Tatsächlich? Andreas Müller, aus Feldkirch stammender Völkerrechter an der Uni Basel, bestätigt es: Im Zuge des EU-Beitritts ist ein Verfassungsartikel (23j) geschaffen worden. Er bedeutet laut Müller, dass Österreich bei allem, was in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU fällt, „vom Bundesverfassungsgesetz Neutralität freigestellt“ ist. Insofern könnte man anderen Mitgliedsländern im Falle eines Angriffs auf sie auch militärisch beistehen. Österreich sei nicht dazu verpflichtet, hätte rechtlich jedoch die Möglichkeit.

Andreas Müller
Völkerrechtler Andreas Müller: Österreich ist bei allem, was in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU fällt, „vom Bundesverfassungsgesetz Neutralität freigestellt“. Foto: Uni Basel

Das ist alles so kompliziert geregelt, dass man glauben könnte, es stecke Absicht dahinter. Und es ist auch so, wie der Völkerrechtler indirekt bemerkt. Man hat demnach eine Debatte darüber vermeiden wollen, „ob wir überhaupt noch neutral sind“.

Heute dürfe sich die Politik nicht mehr drücken, sagt Josef Müller. Eine Debatte sei ohne Tabus zu führen: „Offen, breit und sachlich.“ Es gehe um die Sicherheit Österreichs. Zunächst würde Martin Senn daher die Frage stellen, „wie wir unsere Sicherheit gewährleisten wollen: Wollen wir es ganz alleine und mit der Konsequenz, dass das sehr, sehr viel kosten würde oder im Verbund mit anderen europäischen Staaten? Ich bin überzeugt, dass einer Mehrheit einleuchten würde, dass eine gemeinsame Verteidigung gerade für einen Kleinstaat wie Österreich der vernünftigere Weg ist.“