Eva Pinkelnig über grenzenlose Freiheit und tiefgehende Emotionen

Vorarlbergs Skispringerin geht voller Energie in die Schlussphase der Saison 2019/20. Kraft tankt die 31-Jährige vor allem dank des „Systems Eva“, wie sie es liebevoll selbst bezeichnet.
Dornbirn Wir treffen Eva Pinkelnig am Jahrestag ihrer ersten WM-Silbermedaille von Seefeld im Olympiazentrum in Dornbirn. Training und Physio ist angesagt, bevor sie zum Weltcup-Endspurt mit der Raw-Air-Serie nach Nordeuropa aufbricht und dann zu den Abschlusspringen nach Russland weiterreist. Mit ihrer erfrischenden Art, Dinge auch beim Namen zu nennen, ist die erfolgreiche Vorarlbergerin im Skispringerzirkus zu einer gefragten Gesprächspartnerin geworden. Eine Situation, die für sie selbst neu ist, die sie aber genauso souverän meistert, wie ihre sportlichen Rückschläge. Und dabei fällt vor allem eines auf: Eva Pinkelnig ist Eva Pinkelnig – und lässt sich nicht verbiegen.
Der 26. Februar 2019 wird wohl unvergesslich bleiben?
Generell die Weltmeisterschaft werde ich nicht vergessen. Die ganze Woche war so speziell, vom Anreisetag am Sonntag bis zum Gewinn der Silbermedaille am Samstag. Jeder Tag brachte so viele Erlebnisse. Ich denke nur an die Sonnenuntergänge nach dem Wettkampf. Wenn ich an die zweiten Durchgänge zurückdenke, bekomme ich heute noch eine Gänsehaut. Der Himmel hat fast gebrannt, er war wirklich pink. Dann die vielen Freunde, die Familie, die anwesend war, es war ein Fest. Herr und Frau Österreicher haben uns gefeiert. Es war mega und ich werde es nie vergessen.
Es kam aber noch besser, denn seit der WM gab es für Sie nicht weniger als 14 Podestplätze, darunter fünf Weltcupsiege.
Ich finde selbst keine Worte mehr dafür. Ich hätte nie gedacht, dass mir gelingt, so gut zu sein. Eine Daniela Iraschko-Stolz vielleicht, eine Maren Lundby, Chiara Hölzl, Katharina Althaus, eine Sara Takanashi – bei all diesen Springerinnen hätte ich sofort unterschrieben. Aber ich? Das übersteigt jegliche Vorstellung, jeglichen Wunsch und ist größer als alles was ich je erträumt habe. Ich stehe sprachlos im eigenen Leben. Aber nicht allein aus ergebnistechnischem Grund, vielmehr sind es die Begegnungen, die Gespräche, die Interaktion mit den Fans. Für all das, was in den letzten zweieinhalb Monaten passiert ist, braucht es im Sommer schon ein paar Bergtouren, um meine Gedanken wieder zu hören und sortieren.
Fühlt es sich bei Ihnen an, wie die Belohnung für all die Rückschläge in den vergangenen Jahren?
Jeder gute Sprung ist eine Belohnung für jede Kniebeuge die ich im Olympiazentrum mache (schmunzelt). Belohnung? Es ist das Leben, dass es sehr gut mit mir meint. Gott hält die Fäden in der Hand, daran glaube ich ganz fest. Es ist ein Stück weit sein Segen, dass ich nicht aufgegeben habe.
Dabei hat Ihnen sogar Toni Innauer nach all den Verletzungen nahegelegt, mit dem Skispringen aufzuhören.
Er war ehrlich zu mir, wie es auch Andreas Felder war. Aus ihrer Sicht hat es nicht mehr funktionieren können. Das haben sie mir auch gesagt. Auch wenn es weh getan hat, ich bin in mich gegangen und habe gespürt, dass es noch geht. Jetzt freuen sich alle mit mir und das ist doppelt so schön.
Und jetzt haben Sie mit drei Weltcupsiegen die Legenden Innauer und Alois Lipburger überholt.
Echt! Das habe ich nicht gewusst. Das war eine andere Zeit. Toni Innauer ist eine Legende, er hat anderes erreicht.
Im Gespräch mit Ihnen ist immer von Vertrauen, von Glaube die Rede. Haben Sie auch Ihr Training verändert?
Gar nicht (lacht). Ganz im Gegenteil. Weil ich vielseitig bin, mache ich Dinge, die andere Skispringerinnen definitiv nicht machen. Auch weil sie anders aufgewachsen sind. Ich bin poly-sportiv aufgewachsen und schöpfe aus meiner Vielseitigkeit Kraft. Es ist daher spannend für mich, wenn mich andere Trainer fragen, was ich trainiert habe. Sie glauben mir oftmals nicht, weil da Dinge dabei sind, die im Skisprungzirkus nicht so gemacht werden. Skispringer etwa haben panische Angst davor, langsamer zu werden, wegen längerer Berg- oder Radtouren. Zu mir gehört einfach ein Mittelweg zwischen sprungspezifischem und „Eva“-Training. Ich brauche die Zeit in der Natur und Zeit mit der Familie und Freunden.
Wie viel Prozent des Erfolges schreiben Sie dem Skiwechsel zu?
Fakt ist, dass wir nie wissen werden, ob ich mit Flüge-Ski nicht gleich weit gesprungen wäre. Dass ich bei Augment die Riesenchance erhalten habe, an einer Skientwicklung mitzuwirken, ist einmalig. Das hat es im Springerzirkus noch nicht oft gegeben. Wer bin ich, dass ich das machen darf? Da fallen mir auf Anhieb ein paar andere ein. Vielleicht dank meiner Geschichte. Ich komme ja aus dem Alpinbereich, der Arbeit bei Hervis, in der Skischule habe ich ein anderes Know-how im Skibereich. Der Ski unterstützt mich mehr in meinen Stärken und kompensiert meine Schwächen. Und dadurch hat er definitiv einen großen Anteil an meinen Erfolgen.
Zuletzt in den VN haben Sie gesagt: Ich genieße jeden Sprung, die 30 Sekunden vom Balken bis zur Landung gehören mir. Beschreiben Sie doch dieses Gefühl näher!
Wenn ich am Balken sitze, ist es egal, was in den letzten 31 Jahren war und was in einer Minute ist. Es ist das Leben im Hier und Jetzt. Ich warte auf das Freizeichen und finde es dann einfach cool, Geschwindigkeit aufzunehmen, in kurzer Zeit auf 85 oder 90 km/h zu beschleunigen. Wenn dann die Kante kommt, kann ich meine starken Skifahrer-Oberschenkel (lacht) einsetzen und mich rauskatapultieren. In der Luft überkommt mich das Gefühl von Freiheit. Alles passiert sehr langsam. Drei, vier Sekunden fühlen sich an wie eine Ewigkeit. Spannend ist auch, wie sich bei mir das neurologische System erholt hat, vor allem die Augen. Ich kann in der Luft Dinge wieder genau wahrnehmen. Zuletzt in Ljubno etwa habe ich den Olaf, den Schneemann aus dem Film „Die Eiskönigin“ auf dem Luftballon meiner Schwester von der Luft aus gesehen. Irgendwann kommt die Landung, die Konzentration auf den Telemark, ehe alles in Emotionen übergeht. Ich bin dann voller Adrenalin und bei den meisten Sprüngen weiß ich gar nicht, was in der Zeit von der Landung bis zum Stehenbleiben passiert. Deshalb juble ich auch ganz unterschiedlich, nehme das Publikum mit oder stoße mal einen Jauchzer aus, wenn der Sprung cool war. Es ist das Gefühl der Freiheit, ein kurzer Moment von Endlosigkeit, von Schwerelosigkeit.
Oberstdorf war aber wohl sehr speziell für Sie? Der schwere Sturz im Dezember 2016 und nun der Skibruch.
Es war noch aus einem anderen Grund speziell. In der Nacht von Freitag auf Samstag habe ich von meinem Sturz geträumt. Wie ich das Freizeichen erhalten habe, wie ich zur Kante hingefahren, wie ich rausgesprungen bin. Plötzlich war der Ski weg und ich bin auf das Oberstdorf-Zeichen aus Tannenzweigen detoniert. Ich sehe die Helfer, höre, was sie sagen, wie sie sich um mich gekümmert haben. Bisher hatte ich ja keine Bilder von diesem Sturz. Ich habe mit Lukas Müller (Anm. d. Red.: ehemaliger Skispringer) darüber gesprochen und er hat gemeint: Wenn das Unterbewusstsein glaubt, dass du stark genug bist, spukt es es dir aus. Der Samstagmorgen war brutal hart, weil Menschen, die mich kennen genau gesehen haben, dass ich mit etwas kämpfe. Auch Maren Lundby hat mich danach gefragt, was mit mir los ist. Sie habe gesehen, wie im am Balken gezittert hätte. In Gottvertrauen habe ch mir gesagt: Die drei Sprünge kriegst du hin. Aber ganz ehrlich, ich habe gezittert. Nach jedem Sprung hätte ich am liebsten nur geheult. Dass ich in diesem Zustand noch Platz vier erreicht habe, ist einfach unglaublich. Dann am Sonntag der Skibruch nach einem genialen Sprung, mit dem ich geführt hätte. Als ich danach Trainer Harald Rodlauer erzählte, was in mir vorgegangen ist, meinte er: Er habe das Gefühl, mein Leben sei ein Drehbuch und er sei stolz, ein Teil davon zu sein. Ich habe ihm geantwortet: Hollywood hätte das wohl extra gemacht. Die Stürze sind ein Teil meiner Vergangenheit, aber ich kann auch mit ihnen richtig lässig springen.
Der Weltcup der Skispringerinnen übersiedelt nun in den Norden. In Russland wird der Gesamtweltcup dann entschieden. Wie oft hören Sie die Frage nach Ihren Chancen?
Gar nicht so oft, weil ich doch weit hinten bin (Anm. d. Red.: 127 Punkte). Ich schaue von Sprung zu Sprung. Im Gespräch mit Augment war es ein Ziel für das nächste oder übernächste Jahr, eventuell die 1000-Punkte-Marke zu erreichen. Jetzt schaffe ich das schon heuer, wenn ich mich nicht blöd anstelle. Mit einem neuen Ski eine solche Geschichte miterleben zu dürfen, ist einfach wundervoll. Viele Menschen arbeiten im Hintergrund dafür, dass ich diese Sekunden in der Luft genießen darf. Bei der Skifirma, im Olympiazentrum, das gesamte ÖSV-Team rund um das Betreuerteam Harald Rodlauer und Romedius Moroder. Jetzt freue ich mich auf die Raw-Air-Serie mit richtig coolen Schanzen und fünf Wettkämpfen an sieben Tagen.
Mit welcher Zielvorstellung gehen Sie in die Wettkämpfe?
Egal, was kommt, die Saison ist schon genial. Somit werde ich einfach genießen, was noch kommt.
Bleibt noch die Frage, ob Sie noch Verbesserungspotenzial bei Ihnen sehen?
Ich habe da schon die ersten Ideen, was das Sommertraining oder den Materialbereich betrifft. Ich sehe noch unheimliches Potenzial und habe richtig Bock darauf, hart zu arbeiten. Wir wollen uns Schritt für Schritt verbessern.