Kommentar: Ein ikonisches Bild, das nichts verändert
Heute vor zehn Jahren ging ein verstörendes Bild um die Welt, an das sich viele wohl noch erinnern. Das Foto eines toten kleinen Buben, der wie schlafend am Strand lag, sein rotes T-Shirt war etwas hochgerutscht. Am 2. September 2015 ertrank der damals dreijährige Aylan Kurdi vor der türkischen Küste im Mittelmeer, das Schlepperboot war auf der Flucht aus Syrien gekentert. Seine Mutter und Schwester starben wie Aylan, sein Vater überlebte als einziger der Familie.
Und es war nur wenige Tage zuvor, am 31. August, als die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel einige Sätze zu ihrem Blick auf die Fluchtbewegung sagte, von denen vor allem einer berühmt wurde, „Wir schaffen das“. Im Kontext lautete Merkels Aussage so: „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“
Der ewige Schlaf
Das traurige Bild des kleinen Aylan Kurdi wurde eine Zeit lang zum Symbolbild für das Leid der Menschen, die auf der Flucht nach Europa umkommen. Fast alle Medien weltweit veröffentlichten das Foto, das wohl auch deswegen starke kollektive Emotionen auslöste, weil die Menschen in den westlichen Wohlstandgesellschaften im kleinen, scheinbar schlafenden Aylan ihre eigenen kleinen, schlafenden Kinder sahen. Die an sich notwendige ethische Debatte über den zur Schau gestellten toten Körper wurde in diesem Fall leider kaum geführt, weil es eben ein „ikonisches“ Bild sei, wie viele bis heute erklären; und man verwies auf Aylans Vater, Abdullah Kurdi, der damals sagte: „Es war richtig, dass die Medien das Foto gezeigt haben. Die Menschen dürfen nicht wegsehen, was Schreckliches passiert auf dem Weg nach Europa, nur weil man uns vorher kein Visum geben will.“
Ob er heute noch daran glaubt, dass die Ikonisierung des Bildes seines toten Kindes Auswirkungen auf die politische Debatte rund um Flucht und Migration hatte? Nach wie vor sterben viele auf dem Weg nach Europa, 2024 sind mehr als 2200 Menschen bei Seefahrten über das Mittelmeer als tot oder vermisst gemeldet worden. Abkommen der EU mit Libyen oder Tunesien sollten die Flucht und die Anzahl der Toten auf dem Mittelmeer reduzieren, doch es gibt immer wieder Kritik an diesen Kooperationen. Überlebende, die aus Libyen fliehen konnten, berichten von Gewalt, Folter und Vergewaltigungen. Aylan Kurdis Bild hat die Welt erschüttert – und dennoch nicht verändert.
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.
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