Kommentar: Der unsichtbare Krieg
460 Menschen sterben vergangene Woche bei einem einzigen Angriff auf eine Geburtsklinik in der kürzlich von Milizen eroberten Stadt al-Faschir im Sudan. Es sind Patientinnen, Patienten und deren Begleitpersonen, berichtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sogar auf Satellitenbildern soll man laut dem Humanitarian Research Lab an der Yale School of Public Health die Spuren der Kämpfe und die Toten sehen können. Das sudanesische Ärztenetzwerk wirft der arabischen Rapid Support Forces (RSF) vor, in nur drei Tagen 1.500 unbewaffnete Zivilistinnen und Zivilisten ermordet zu haben – dies sei ein Genozid an der nicht arabischen Bevölkerung des Sudan. All das ist Teil eines seit 2023 tobenden Bürgerkriegs, der nun vollends eskaliert.
Zwölf Millionen Menschen sind im Sudan auf der Flucht, 150.000 sind bereits getötet worden, die UNO spricht von der „am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise der Welt“.
Dieser Krieg ist im Kern ein Machtkampf zwischen zwei Militärs: General Abdel Fattah al-Burhan führt die reguläre Armee, die Sudanese Armed Forces (SAF). Sein Gegenspieler Mohamed Hamdan Dagalo befehligt die RSF. Die Miliz ging aus den berüchtigten Janjaweed hervor, die bereits vor 20 Jahren im westsudanesischen Darfur Massaker an ethnischen Gruppen verübt hatten. Ihre Kriegsführung ist heute so brutal wie damals, doch auch die Armee begeht Kriegsverbrechen, wie Menschenrechtsorganisationen dokumentieren.
Nicht wegsehen
Und dennoch ist der Krieg in dem nordafrikanischen Land – abseits der aktuellen Eskalation – großteils unsichtbar für die Welt. Europa und die USA pflegen kaum Geschäftsbeziehungen mit dem Sudan und haben wenige Mittel in der Hand, um etwa mit Sanktionen einzugreifen. Krieg ist den meisten in Europa ohnehin fremd, zu unserem großen Glück; er ist nur jenen Menschen vertraut, die es aus Kriegsgebieten zu uns geschafft haben. Erst durch den Ukraine-Krieg in unserer Nähe gibt es wieder einen Bezug zu dem, was das Grauen des Krieges für ein Land und für seine Menschen bedeutet.
Was wird aus der Vorstellung einer lebenswerteren Welt, wenn wir den Krieg im fernen Sudan ausblenden und lieber wegsehen? Und was wird aus uns selbst, wenn wir abstumpfen? Der große Aufklärer Immanuel Kant hat einst einen grundlegenden Gedanken formuliert, der bis heute eine Richtschnur für das Menschsein und den Umgang mit anderen sein kann. Kant sagt: „Was einen Wert hat, hat auch einen Preis. Der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde.“ Und es ist völlig egal, ob der Mensch in Kiew, Wien oder im sudanesischen Khartum lebt. Solange man diesen Gedanken zu leben versucht, gibt es auch Hoffnung.
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.
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