Die kleine Ungerechtigkeit der Gnade

Naemi Schmit-Stutz über die provozierende biblische Gerechtigkeit: Gott ergreift Partei.
Bregenz Wie nett! Manchen Gästen drückt Naemi Schmit-Stutz Mozartkugeln in die Hand. Andere gehen leer aus. Warum nur? Enttäuschte Gesichter. Aber das hat die Pfarrerin bedacht. Die Ökumenischen Gespräche fragen dieses Jahr: „Was ist gerecht?“ Also leistet sie sich zu Beginn eine kleine Ungerechtigkeit. Na, gesehen, was das in uns auslöst? Keine Sorge: Sie hat für alle Süßes dabei.
Auch die Bibel setzt gefühltes Unrecht an den Anfang. Adam fühlt sich zu Unrecht aus dem Paradies vertrieben. Kain erschlägt Abel, weil Gott den Bruder bevorzugt. Brauchen wir Gesetze, Damit die Wut in uns nicht übermächtig wird? Heute ist vieles geregelt, bis ins Detail. Das bremst unsere Individualität – und schützt doch die Schwächeren vor Unterdrückung.
Aug um Aug
Naemi Schmit-Stutz nimmt ihr Publikum mit auf eine schnelle Reise durch die Rechtsgeschichte. Den ersten schriftlichen Codex Ur-Nammu finden wir in Mesopotamien. 40 Paragrafen sind noch lesbar. Mord, Raub, Ehebruch – immer geht es darum, den Schaden auszugleichen: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Das Alte Testament weist den Familienoberhäuptern Richterrollen zu. Neben den Ältesten urteilen auch Priester, später königliche Beamte, am Ende der König selbst. Religion prägt das Gesetz, anders als heute. In Israel heißt es „Tora“ – Weisung für ein erfülltes Leben. Gott selbst ergreift immer wieder das Wort: „Ich bin der Herr, Dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat. Du sollst…“
Die andere Wange
Im Neuen Testament dreht Jesus das Prinzip „Aug um Aug“ um: In der Bergpredigt fordert er den Geschlagenen auf, dem Aggressor auch die andere Wange hinzuhalten. Geltendes Recht wollte er damit keineswegs aushebeln, sagt Schmit-Stutz. „Aber es hatten sich Missbräche eingeschlichen“, erzählt sie. „Man heuchelte Gottesgehorsam und verfolgte doch nur die eigenen Interessen.“
Gleichnisse führen den Gläubigen die Maximen vor Augen: Das Gleichnis vom Weinberg wendet sich dagegen, dass die Leistung zum einzigen Maßstab wird – und Menschen damit unbarmherzig gegen sich und andere zu machen. Denn gilt Leistung allein, herrschen Neid und ein gnadenloses Bewertungssystem. An anderer Stelle lehrt die Bibel, dass wir uns dort, wo wir ängstlich auf Bewahrung und Erhaltung bedacht sind, nicht nur um wichtige geistliche Einsichten bringen, sondern auch um Lebensfülle.
Gott ist nicht blind
Anders als Justitia, die mit verbundenen Augen für Unparteilichkeit steht, greift der Gott der Bibel rettend ein – für sein Volk, für die Unterdrückten und Entrechteten. Diese Parteilichkeit ist der Kern des biblischen Gerechtigkeitsverständnisses. Was folgt daraus? Vor allem dies: Die Gleichung Gerechtigkeit = Gleichheit kann unmenschliche Züge tragen. Nicht von ungefähr wählten die Übersetzer der hebräischen Bibel ins Griechische für das hebräische Wort „Chesed“, das Gnade, Güte und Barmherzigkeit bedeutet, das griechische Wort für Gerechtigkeit.

Ökumenische Gespräche 2025
Alles rechtens – aber auch gerecht?
Evangelische Kreuzkirche am Ölrain ─ _Gemeindesaal, Kosmus Jenny Straße 1, Bregenz
Dienstag, 18. November 2025, 19:30 Uhr, „Zwischen Paragraf und Gewissen – Recht, Gerechtigkeit und Menschlichkeit im Alltag der Polizei Bachmann (Lancdespolizeidirektorin)
Dienstag, 25. November 2025, 19:30 Uhr, „Ich habe noch eine Rechnung offen“, Sigrid Hämmerle-Fehr (Psychotherapeutin)
Veranstalter: Evangelische Pfarrgemeinde Bregenz, Katholische Kirche Bregenz, Ökumenisches Bildungswerk Bregenz, Vorarlberger Nachrichten. Der Eintritt ist frei, freiwillige Spenden willkommen