Scheu ist für Wölfe die Lebensversicherung
Trotz Lizenz zum Töten: Die Ostschweizer Jäger konnten noch keinen Jungwolf erlegen.
Chur, Bregenz. „Disziplinierung des Wolfsrudels“ ist die harmlos klingende Bezeichnung für das, was das Schweizer Bundesamt für Umwelt den Kantonen St. Gallen und Graubünden im Zusammenhang mit allzu geselligen Wölfen am 21. Dezember des Vorjahrs genehmigt hat. Konkret: die Erlaubnis zur Tötung von zwei Jungtieren aus dem Calanda-Rudel. An der Bergflanke zur Stadt Chur haben die zurückgekehrten Räuber regelmäßig für viel Unruhe gesorgt, weil sie sich zum Teil unbeeindruckt in den Siedlungsgebieten der Dörfer bemerkbar machten, Schafe rissen und offensichtlich die Scheu vor den Menschen verloren, wurde die Forderung nach Einschüchterungsmaßnahmen laut.
Milder Winter als Grund?
Für Dominic Thiel (41), Leiter des Amtes für Natur, Jagd und Fischerei des Kantons St. Gallen, war die Maßnahme gerechtfertigt: „Es braucht gezielte Abschüsse, um die Wölfe wieder scheu zu machen. Sie müssen die Menschen als Gefahr sehen und sich von Siedlungsgebieten fernhalten“, hatte er gegenüber den VN erläutert.
Knapp drei Monate nach der Abschussgenehmigung für zwei Jungtiere sind jedoch alle Wölfe des Rudels noch am Leben. Die Tiere hielten sich bisher weitestgehend von Siedlungsgebieten fern. Experten vermuten, dass dies mit dem milden Winter zu tun hat. Die Wölfe hätten sich nicht in den Dörfern Nahrung suchen müssen.
Verschiedene Würfe
David Gerke (30), Sprecher der „Gruppe Wolf Schweiz“ und Kenner des Calanda-Tals, sieht das nicht zwingend so. „Es kann auch mit dem Wesen des Wurfs von 2015 zu tun haben. Diese Jungtiere hatten im Gegensatz zu ihren Vorgängern 2014 keine guten Erfahrungen mit Menschen und meiden diese daher viel eher.“
Mehrere angezeigte und dokumentierte Begegnungen von Menschen mit Wölfen hatten zuvor zur Forderung nach einer Abschussgenehmigung geführt. „Einmal jagte das Rudel Rehe und kam dabei in eine menschliche Siedlung. Ein anderes Mal spazierte ein Wolf an einer Bushaltestelle mit wartenden Menschen vorbei. Auch in der Nähe spielender Kinder wurde einmal ein Wolf gesehen“, berichtet Gerke. Für den Gewässerökologen ist die Abschusserlaubnis trotzdem nicht gerechtfertigt. „Man sieht ja, dass die 2015 geborenen Jungtiere offensichtlich total anders sind.“ Vom Berg herunter seien jedoch auch die 2015 geborenen Wölfe gekommen. Dort rissen sie mehrere Rehe.
Warten auf Nachwuchs
2012 hat im Calanda-Tal ein Wolfspärchen ein Rudel gegründet. Bereits vier Würfe hat es seither gegeben. „20 oder 21 Welpen wurden bisher geboren. Der fünfte Wurf wird für Ende April, Anfang Mai erwartet“, erzählt Gerke. Nach ihrem ersten Lebensjahr entfernen sich vor allem die Männchen vom Rudel und gehen auf Wanderschaft, während die Weibchen noch länger bei der Gruppe bleiben. Einige dieser Wanderer streiften dabei auch durch Vorarlberg. Das derzeitige Calanda-Rudel besteht aus sechs bis acht Tieren. Ursprünglich kamen die Wölfe aus Italien in die Schweiz. Im südlichen Nachbarland haben sich im Laufe der Jahre mehrere Rudel gebildet.
In Vorarlberg gab es seit dem vergangenen August keine Wolfsbeobachtungen mehr. Noch im Juli des Vorjahrs hatte eines der Raubtiere im Klostertal 20 Schafe gerissen. „Aber das war kein Calanda-Wolf, der kam aus der Zentralschweiz“, weiß der Wildbiologe des Landes, Hubert Schatz (50). „Spannend“, sagt Schatz, „wird es bei uns wieder im Mai und im Juni. Bis dann ist der neue Wurf im Calanda-Tal da, und einige der Jungwölfe der nächstältesten Generation begeben sich auf Wanderschaft. Dabei können sie auch wieder in unser Land kommen.“