“Die EU driftet auseinander”

Vorarlberg / 31.03.2016 • 19:29 Uhr
„Auf nationaler Ebene bin ich kein Anhänger der plebiszitären Demokratie“, sagt Alexander Van der Bellen im VN-Interview. Foto: VN/Hartinger
„Auf nationaler Ebene bin ich kein Anhänger der plebiszitären Demokratie“, sagt Alexander Van der Bellen im VN-Interview. Foto: VN/Hartinger

Van der Bellen kann sich vorstellen, dass bestimmte Staaten eine Kern-EU bilden.

Schwarzach. Bundespräsidentschaftskandidat Alexander Van der Bellen hofft, dass die Jugend das Auseinanderdriften der EU stoppt. Außerdem kann er sich eine Art Kern-EU vorstellen. Von mehr direkter Demokratie auf nationaler Ebene hält er nicht viel, wie er bei seinem VN-Besuch erklärt.

Der Wien-Besuch von Irans Präsident Rohani wurde verschoben und fällt nun wohl in die Amtszeit eines neuen Bundespräsidenten. Sollten Sie das werden, würden Sie sich darauf freuen?

Van der Bellen: Freuen ist der falsche Ausdruck. Es ist ein Gegenbesuch, er hat also einen diplomatischen Hintergrund, den man nicht überbewerten sollte.

Bundespräsident Fischer soll bei solchen Reisen als Verbündeter der Wirtschaft aufgetreten sein. Würden Sie den Kurs fortsetzen?

Van der Bellen: Ja. Es wird nicht bei jedem Staatsbesuch angemessen sein. Aber bei größeren Besuchen auf jeden Fall.

Ist es legitim, wegen wirtschaftlicher Interessen die politische Situation eines Landes auszublenden?

Van der Bellen: Nein. Die Ostpolitik von Willy Brandt war umstritten. Im Nachhinein gesehen war es aber richtig, mit der DDR eine Gesprächsbasis zu suchen. Obwohl niemand, schon gar nicht Willy Brandt, Illusionen über den diktatorischen Charakter des DDR-Regimes hatte.

Einer der letzten Besuche wird Fischer zu Wladimir Putin führen. Wäre es von österreichischem Interesse, dass die Sanktionspolitik zu einem Ende kommt?

Van der Bellen: Ich hoffe, dass es einmal zu einem Ende kommt, aber dafür muss die Situation in der Ostukraine bereinigt werden. Derzeit sind die Sanktionen gerechtfertigt. Wobei die Fehler nicht allein auf Moskauer Seite liegen, auch Kiew hat es bisher nicht geschafft, Autonomiebestimmungen für die Ostukraine auf die Beine zu stellen.

Welche Rolle spielt Wien in der diplomatischen Welt?

Van der Bellen: Ich finde es bedauerlich, dass das Außenministerium in den letzten zehn Jahren, wenn nicht noch länger, budgetär geschrumpft wurde. Das sind schlechte Voraussetzungen für eine Wiederbelebung einer aktiveren Rolle Österreichs.

Wie sehen Sie die Flüchtlingspolitik der EU?

Van der Bellen: Wir erleben seit einiger Zeit, nicht erst seit der Flüchtlingskrise, ein Auseinanderdriften der Union. Der Solidaritätsgedanke geht zunehmend verloren. Wenn das so weitergeht, könnte die Union auseinanderbrechen.

Weshalb geschieht das?

Van der Bellen: Wen wundert’s, dass 28 Staaten keinen Kompromiss zustande bringen, wenn die Staatschefs in ihrem eigenen Land wiedergewählt werden müssen? Stellen Sie sich dies in Österreich vor: Eine Kommission mit Vertretern aus jedem Bundesland, parallel dazu ein Rat mit neun Landeshauptleuten. Sie können das Beste wollen, werden aber im eigenen Bundesland gewählt. Das kann nicht funktionieren.

Sollten jene Staaten, die kooperieren wollen, eine engere Union bilden?

Van der Bellen: Eine Möglichkeit: Das große Gebilde bleibt bestehen, aber innerhalb eines engeren Kreises wird ein Neustart versucht.

Also eine Art Kern-EU?

Van der Bellen: Wenn man so will, ja.

Wie kann man das Auseinanderbrechen abwenden?

Van der Bellen: Meine Hoffnung ist die jüngere Generation, für die Europa etwas Selbstverständliches geworden ist. Die Reisefreiheit, das Studieren und Arbeiten im Ausland. Kinder wachsen in binationalen Ehen mehrsprachig auf. Ihre Heimat wird Europa sein.

Ist das nicht ein elitärer Blick?

Van der Bellen: Mag sein. Aber sind die Union, die EWG, die Gemeinschaft für Kohle und Stahl ursprünglich nicht auch die Projekte von wenigen gewesen? Hätte die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Volksabstimmung überlebt? Ich glaube nicht.

Gibt es Grenzen der direkten Demokratie?

Van der Bellen: Ja.

Die Vorarlberger blicken ja gerne in die Schweiz.

Van der Bellen: Ich bin nicht so begeistert über die Schweiz. Ich sehe schon die lange Tradition. In der Regel wurde viel informiert und ohne große Aufregung abgestimmt. Es wurden aber auch Abstimmungen zugelassen, die in meinen Augen nicht zulässig wären, weil Menschenrechte betroffen sind. Minarette und die Ausschaffungsinitative zum Beispiel.

In welchem Bereich könnte man direkte Demokratie in Österreich stärken?

Van der Bellen: Auf lokaler Ebene kann man schon sehr viel machen. Auf nationaler Ebene bin ich kein Anhänger der plebiszitären Demokratie. In Frankreich wurde damals der EU-Verfassungsvertrag abgelehnt. Aber warum? Weil sie gerade den eigenen Präsidenten nicht leiden konnten.

Wen sehen Sie als Ihren ernstzunehmendsten Konkurrenten im Wahlkampf?

Van der Bellen: Ernst nehme ich alle.

Gar alle?

Van der Bellen: Es ist das gute Recht von Baumeister Lugner, anzutreten. Es ist nicht so einfach, 6000 Unterschriften zu sammeln. Bundespräsident wird er nicht werden. Aber er kann ein bis zwei Prozentpunkte oder die Wahlbeteiligung verändern, was sehr wohl eine Rolle spielen kann.