Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Ein Versuch (7)

Vorarlberg / 18.06.2019 • 20:59 Uhr

Das Ehepaar saß immer noch am Tisch, vom Schnaps beschwipst, und der Mann dachte sich, ich müsste mich aufraffen und sie küssen. Ich mache es.

Er beugte sich zu seiner Frau, die zurückgelehnt auf dem Stuhl saß, und küsste ihre Lippen, aber weil sie so spröd und schmal waren, beließ er es dabei.

Sie tat es ihm gleich und berührte seinen Mund. Sein Atem erschreckte sie. Das sind seine Brücken, dachte sie, er muss zum Zahnarzt.

Sie gingen auseinander.

Wenn sie nur, dachte der Mann weiter, ein wenig Polsterung an ihrem mageren Körper hätte, wenn sie nur ein wenig maßlos wäre, nicht mit Butter sparte, Sahnetorte essen würde, wenn sie sich nur ein wenig, nein, wenn sie sich nur total gehen lassen würde. Mir ist ihre Korrektheit eine Strafe. Er nahm sich vor, jeden Abend mit ihr Wein zu trinken. Zur Lockerung.

„Ihm kamen Filmszenen von Liebespaaren

in den Sinn, auf Küchentischen und Teppichen.“

Sie nahm sich vor, einen Zahnarzttermin für ihn zu arrangieren, die Sprechstundenhilfe sollte ihn anrufen und an die Zahnreinigung erinnern. Das wäre doch vornehm. Sie käme in dieser Angelegenheit nicht vor. Sie sah an sich herab über die mageren Brüste auf ihre knochigen Knie. Andere Garderobe kaufen. Etwas Frisches. Neue Frisur, neue Farbe über die ergrauten Haare. Ein freundliches Braun.

„Dann setze ich mich an meine Lektüre“, sagte der Mann.
„Was liest du gerade?“
“Ich lese Stoner von John Williams, eine tragische Geschichte.“

„Hab ich auch schon gelesen“, sagte die Frau, „der Professor in der Geschichte ist gut gezeichnet, ein Mann ohne Haltung.“

„Bin ich ein Mann ohne Haltung?“, fragte er.

„Bezieh es nicht auf dich, es ist Literatur“, sagte sie. Dachte aber, genau so einer bist du, einer ohne Haltung.

Die Frau steckte ihre einzige Brosche an die Bluse, ein Anfang von Verbesserung, und verließ das Haus. Sie wollte den Frisör hinter sich bringen, sich neue Schuhe kaufen, solche mit Absätzen, ein Kleid, am Abend würde sie wieder zurück sein. Rechtzeitig, um das Lachen ihrer Nachbarin nicht zu versäumen.

Zu Hause dann zog sie das neue Kleid an und rief ihren Mann. Er sah sie an wie eine Erscheinung und dachte, wenn sie jetzt noch etwas zunehmen würde.

„Schönes Kleid, schöne Frisur, komm setzen wir uns.”

Sie saßen an der Tapetenwand und warteten. Der Mann holte zwei Gläser und entkorkte den teuren Wein. Er hatte ihn am Nachmittag gekauft. Dazu belgische Pralinen.

Sie prosteten einander zu und mit einer Praline im Mund sagte der Mann: „Auf unsere Abenteuer!“

So sagt er dazu, dachte sich seine Frau: Abenteuer. Sie wollte drei Gläser Wein trinken, was sie noch nie getan hatte, ihn an der Hand nehmen und ins Schlafzimmer führen.

Ihm kamen Filmszenen von Liebespaaren in den Sinn, auf Küchentischen und Teppichen.

Wieder hatte die Frau von nebenan nicht gelacht.

Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.