Kolumne: Talent (7)
An Rebeccas migränefreien Tagen saß sie in der Schulstunde und langweilte sich. Das war nach den Ferien. Sie langweilte sich noch mehr als im vorangegangenen Schuljahr, denn in den Ferien hatte sie im Internet viel über Mathematik und Physik erfahren. Sie dachte, die Lehrer wissen nicht einmal halb so viel wie ich. Wie kommt es, dass sie sich trauen, dort vorne zu stehen? Sie dachte, es würde nicht möglich sein, ihnen beizubringen, was sie wusste.
Die Nachhilfestunden für Luis hatte sie immer wieder verschoben, es war sinnlos. Luis war auf der Stufe eines kleinen Grundschülers. Sein Bruder Linus machte ihr ein schlechtes Gewissen. Das Geld nämlich nahm sie. Luis warte, sagte Linus, und sie melde sich nicht, ob sie mehr Geld fürs Lehren verlange, dem Vater sei für Luis Bildung nichts zu teuer.
„Es ist sinnlos“, sagte Rebecca.
Linus sagte: „Ich weiß, dass Luis seit dem Unfall ein Depp ist. Die Eltern wissen es auch. Sie wollen aber so tun, als würden sie es nicht wahrhaben wollen, weil sie denken, so tun gute Eltern. Unsere Eltern sind aber keine guten Eltern. Luis steht auf dich. Lass halt, dass er dich ein bisschen angreift. Bei einem Deppen ist das ja nicht schlimm.“
Rebecca lag bei geschlossenen Fensterläden in ihrem Zimmer, vor den Augen flirrten Punkte, sie war fiebrig und fror, die Migräne hatte sie in ihren Klauen, sie konnte nicht denken. Sie dachte, ich werde verblöden wie Luis. So schlimm war der Gedanke gar nicht.
Es hatte sich herumgesprochen, dass Rebecca ein Genie ist, und so wurde in der Stadtverwaltung beschlossen, sie zu fragen, ob sie bei den Budgetvorverhandlungen teilnehmen wolle, Honorar garantiert. Der Einsparungen wegen. Warum nicht eine Jugendliche? „Wir alten Säcke“, hatte der Bürgermeister gesagt, „sind betriebsblind. Wer so gut rechnen kann, wie von dieser Schülerin behauptet wird, der kann auch vorausberechnen. Und wenn sie es nicht kann, können wir wenigstens sagen, wir haben es probiert.
„Geh wenigstens einmal hin“, sagte der Vater zu Rebecca. „Du kannst dich dann immer noch herausreden.“
So saß die fünfzehnjährige Rebecca im Stadtsaal neben älteren Herren, die nach Schweiß und Rasierwasser rochen, neben älteren Frauen mit Ponyfrisuren, vor sich einen Computer. Sie sah auch den Vater von Linus und Luis, der wegen seines Reichtums eine wichtige Position innehatte. Es war seine Idee gewesen. „Dieses Mädchen“, hatte er gesagt, „bringt bei meinem Sohn zusammen, was ein Dutzend Ärzte nicht schaffen. Und das nur mit Hirnschmalz, bitte!“
Rebecca rechnete und berechnete und rechnete voraus. Fünf Vormittage saß sie unter diesen Frauen und Männern und nicht in der Schule.
Dann sagte sie: „Danke. Aber mein Interesse ist zu gering.“
Über das Resultat waren sich die Stadtvertreter und -vertreterinnen nicht einig. Rebecca hatte ungewöhnlich eingespart.
Sie holte ihren Vater von der Tischlerei ab. Es war noch nicht Feierabend, und so schaute sie sich in der Schreinerei um. Der Holzgeruch beruhigte sie. Man musste nichts über Mathematik und Physik wissen, um diesen Geruch zu lieben.
„Papa“, sagte sie „was hältst du davon, wenn ich nach der Schule bei euch eine Lehre anfange?“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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