Mit Maske und doch noch nie so nackt

Die Pandemie hält uns an diesem Karfreitag einen Spiegel vor. Es gilt, das auszuhalten.
Lech Den Karfreitag muss Jodok Müller (60) nicht lange suchen. „Der Karfreitag ist im Grunde das tragische Ende des Lebens Jesu. Er hätte sich das vermutlich anders vorgestellt“, sagt der Feldkircher Dompfarrer. „Dass es so tragisch endet in einem Märtyrertod … da wird eine unschuldige Person durch ein politisches Ränkespiel in einem Komplott binnen drei Tagen abgeurteilt, und zu allem Überfluss wählt der Mob den Barabbas!“ Als der römische Statthalter die Menge vor die Wahl stellt, wählt sie den Verbrecher, um ihn freizulassen. Der unschuldige Jesus von Nazareth aber wird ans Kreuz geschlagen. „Ich glaube, dass der Karfreitag überall dort verortet ist, wo Menschen das erfahren: Ich bin ungerecht behandelt worden, ausgelassen bei der Lohnerhöhung, mich hat man gemobbt, ich habe die Kinder großgezogen und jetzt ist niemand mehr da, usw.“
In Lagern und Spitälern
Heuer findet Müller den Karfreitag im Überfluss „in der Lombardei bei den Menschen, die alleine sterben mussten. Und in den grausamen Flüchtlingslagern, auch dort ist er.“ Freilich, im Vergleich dazu haben wir das Glück, dass wir das Leben noch genießen können. Aber selbst jene, die hierzulande noch ihren Job und ein Haus mit Garten haben, die mit der Corona-Krise problemlos zurande kommen, auch sie erleiden Verlust. „Die Garantie nämlich, dass das alles immer so weiter geht“, die hat die Pandemie über Nacht zerschlagen. „Das Virus beraubt uns jedweder Gewissheit.“
Dabei schien alles so vorgezeichnet. Die 1950er Jahre bestimmte der Aufbau nach dem Weltkrieg, in den Sechziger Jahren tobte die Revolution, in den 1970ern wurde Sicherheit großgeschrieben, in den Achtziger und Neunzigern wuchs der Wohlstand immer mehr „und jetzt legt sich über unser Leben plötzlich diese große Unsicherheit durch einen Virus“. Der Pest fielen in Europa zwischen 1346 und 1353 geschätzte 25 Millionen Menschen zum Opfer. „Wir dachten, das kann bei uns niemandem mehr passieren.“
Zutiefst verunsichert
So findet der Karfreitag die Menschen verunsichert vor und gleichzeitig in einem Moment schonungsloser Wahrheiten: Menschen, die gleichgültig nebeneinander her lebten, sind jetzt plötzlich vollkommen verwiesen aufeinander. Jene, die sich lieben und jene, die sich hassen, finden sich plötzlich auf engstem Raum wieder, „und wenn wir der Bundesregierung gehorchen, dann verlassen wir diese kleinste Einheit auch nicht“. Das ist wie ein Offenbarungseid. Die wahre Qualität meiner Beziehungen wird offenbar, mit meinem Partner, meinen Kindern, dem Arbeitgeber … „Ich muss mich konfrontieren mit mir selber“, sagt Dompfarrer Müller. „Auch, wenn wir derzeit Masken tragen müssen, waren wir doch noch nie so nackt und verletzbar.“

Und es zieht sich. Die Kirche hat die Geschichte um Tod und Auferstehung rituell auf drei Tage ausgespannt. Der Karfreitag dauert einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang und zieht sich noch den ganzen, langen Karsamstag hin, ehe in aller Stille Auferstehung geschieht. Jodok Müller kann den gut gemeinten Schildern mit der Aufschrift „Alles wird gut“ nicht so viel abgewinnen. „Das ist mir zu schnell.“ Denn es wird nicht alles wieder wie vorher und die guten Entwicklungen werden ihre Zeit brauchen. „Wir müssen lernen, das auszuhalten.“ Gerne möchte Jodok Müller deshalb die Menschen animieren, „dass sie daheim ihr Kreuz wieder auspacken“. Vielleicht besitzen sie ja noch das Kreuz von der Erstkommunion, das in irgendeiner Schublade verwahrt wird. „Nehmen sie es heraus, setzen sie sich zusammen, zünden eine Kerze an und beten sie ein Vater unser. Und denken sie für einen Augenblick daran, wie das alles unser Leben durchkreuzt.“