Reinhard Haller

Kommentar

Reinhard Haller

Krise als Chance?

Vorarlberg / 30.04.2020 • 08:29 Uhr

Immer wenn wir von Schicksalsschlägen, Katastrophen oder Krankheiten heimgesucht werden, bekommen wir zu hören, jede Krise sei eine Chance. So auch jetzt, in der schwersten gesellschaftlichen Belastung seit dem Zweiten Weltkrieg. Oft reagieren wir auf diesen wohlmeinenden Ratschlag nahezu allergisch und befürchten, damit sollen Schwierigkeiten verniedlicht, Probleme schöngeredet und wir selbst nicht ganz ernstgenommen werden. Wenn jedoch in der psychologischen Beratung der Gedanke von den positiven Möglichkeiten einer krisenhaften Situation in den Raum gestellt wird, geschieht dies aus zwei handfesten Gründen: Zum einen ist für verzweifelte Menschen eine neutrale, differenzierte Sichtweise wichtig, die auch den Blick auf die gesunden Anteile, auf eigene Kräfte und Ressourcen zulässt. Denn das Erleben des Menschen in der Krise ist durch und durch negativ gefärbt. Er kann mit seiner schwarz getönten Psychobrille das Positive, das Starke, das Hoffnungsvolle gar nicht mehr sehen, wodurch Einstellung und Motivation noch mehr geschwächt werden. Zum anderen ist es einfach Realität, dass man an Krisen nicht nur zerbrechen, sondern aus ihnen gestärkt hervorgehen kann.

„Bei den altgriechischen Ärzten galt sie als Wendepunkt zu Tod oder Gesundheit.“

Krise wird definiert als gefährliche Entwicklung und Verschärfung eines Konfliktes, als Ausnahme- und Extremsituation, auch als entscheidender Moment im Verlauf einer Krankheit. In allen Beschreibungen ist aber durchgehend der Aspekt der Chance enthalten. Eine moderne wissenschaftliche Definition bezeichnet sie als „Herausforderung, deren erfolgreiche Bewältigung mit einem gestärkten Selbstbewusstsein verbunden ist“. In der Chinesischen Medizin setzt sich das Doppelzeichen für Krise aus einem Teil für „Gefahr“ und einem anderen für „Chance“ zusammen. Bei den altgriechischen Ärzten galt sie als Wendepunkt zu Tod oder Gesundheit.

So eröffnet uns die Coronapandemie neben all ihrem Schrecken auch zahlreiche neue Möglichkeiten: für einen besseren Umgang mit der Natur, für mehr Wertschätzung von Pflege- und Dienstleistungsberufen, für das Hinterfragen von Hetze und Gier, für das Erkennen der wirklich wichtigen Dinge des Lebens, für die Pflege unserer sozialen Beziehungen, für die Zuwendung zu unserem inneren Leben, zu uns selbst.

Das Wort „Krisis“ heißt ursprünglich Weggabelung. Der eine Pfad führt zum Niedergang, der andere zur Verbesserung. Der Weg geht jedenfalls nicht mehr so weiter wie bisher. Und das ist bei manchen Fehlentwicklungen der letzten Jahre selbst in der Coronakrise ein guter Trost.

Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut

und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.