Betreten und Verweilen
Zu den grundlegenden „Corona-Regeln“ gehört, dass im öffentlichen Raum Abstandsvorschriften eingehalten werden müssen. Konkret lautet die noch immer geltende Bestimmung des § 1 Abs. 1 der „Lockerungsverordnung“: „Beim Betreten öffentlicher Orte ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.“
Das ist eine verhältnismäßig einfach zu verstehende Rechtsvorschrift. Dass Juristinnen und Juristen tastsächlich, wie Bundeskanzler Kurz sagen würde, „spitzfindig“ sein können, hat nun allerdings das Verwaltungsgericht Wien unter Beweis gestellt. Auf eine Beschwerde einer Person, die wegen Nichteinhaltung der Abstandsvorschriften bestraft worden war, hielt es fest, dass die Lockerungsverordnung nur das Betreten, nicht aber den Aufenthalt im öffentlichen Raum regle. Die Bestimmung würde also nur in jener Sekunde gelten, in der eine Person erstmals den öffentlichen Raum betritt. Danach „verweilt“ diese Person im öffentlichen Raum und betritt ihn nicht mehr. Folglich gelten dann auch keine Abstandsvorschriften.
Das ist natürlich Unsinn. Dem Verwaltungsgericht Wien kann man nur zugutehalten, dass sowohl die Lockerungsverordnung als auch das sogenannte Covid19-Maßnahmengesetz, auf das sie sich stützt, immer nur von „Betreten“ und nicht auch vom „Aufenthalt“ oder dem „Verweilen“ sprechen. Aber auch einem Verwaltungsgericht ist es nicht verboten, eine Rechtsvorschrift nach ihrem Sinn auszulegen.
Selbstverständlich kann die Lockerungsverordnung gar keinen anderen Sinn haben als nicht nur das erstmalige Betreten zu regeln. Und dieser Sinn ist auch für sehr einfache Menschen so einleuchtend, dass auch gar nicht darüber diskutiert werden muss, ob das Gesetz hinreichend klar formuliert ist. Auch die weitere Argumentation des Verwaltungsgerichts, das Covid9-Maßnahmengesetz biete zudem keine gesetzliche Grundlage für die Bestrafung wegen bloßer Nichteinhaltung der Mindestabstände, ist nicht überzeugend. Man kann nur hoffen, dass die Strafbehörde, deren Bescheid vom Verwaltungsgericht aufgehoben wurde, gegen diese Fehlentscheidung Revision an den Verwaltungsgerichtshof erhebt.
Ähnliche Formulierungen, was das „Betreten“ betrifft, gibt es übrigens auch in Vorarlberg: So darf das Bodenseeufer bekanntlich frei „betreten“ werden. Und kein Mensch hat bisher daran gezweifelt, dass „Betreten“ auch einschließt, das Badetuch hinzulegen und sich für einige Zeit dort auszuruhen und den Wellen des Sees zu lauschen. Wer weiß, was dem Verwaltungsgericht Wien einfiele, hätte es in Vorarlberg etwas zu sagen.
„Die Bestimmung würde also nur in jener Sekunde gelten, in der eine Person erstmals den öffentlichen Raum betritt. “
Peter Bussjäger
peter.bussjaeger@vn.at
Peter Bußjäger ist Direktor des Instituts für Föderalismus und Universitätsprofessor in Innsbruck.
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