„Mein Griechenland ist hier“

Perikles Mylonas erinnert sich an den Neuanfang in der Fremde.
FELDKIRCH Was ist denn das? Da saust ein Mädchen mit Rollen an den Füßen über den Asphalt und fällt nicht um! Diese Szene erblickt der achtjährige Perikles Mylonas vom Autobus aus, der ihn vom Bahnhof Götzis nach Mäder bringt, wo sein Vater wohnt. Perikles ist soeben nach einer elend langen Zugreise aus Griechenland in Vorarlberg angekommen. Der Bub hat noch nie Rollschuhe gesehen. In Choristi, der 2700-Einwohner-Stadt im Nordosten Griechenlands, wo er bisher aufgewachsen ist, hat es solch seltsame Dinge nicht gegeben.
Drei Tage zuvor war Perikles noch daheim in Choristi. Dann ging alles sehr schnell. Seine Mutter räumte das Haus aus, vermietete es an einen (orthodoxen) Pfarrer, packte die Koffer und ihre beiden Söhne Perikles und Niko und stieg in den Zug. Es war Anfang April 1965, als Frau Mylonas beschlossen hatte, sich mit ihren Kindern auf die zwei Tage und drei Nächte dauernde Reise nach Österreich zu machen. „Wir folgten meinem Vater. Er kam bereits 1963 hierher. Als Arbeiter“, erzählt Perikles. „Es war nass, kalt und alles war so kitschig grün, als der Zug durch Vorarlberg fuhr“, beschreibt der nun 63-Jährige den Ankunftstag. „Als ich dann in Götzis das rollschuhfahrende Kind sah, fühlte ich mich in eine noch weit entfernte Zukunft versetzt.“
Heute, 55 Jahre später, sitzt der Austro-Grieche im Wohnzimmer seines Blockhauses in Feldkirch, trinkt Filterkaffee und erinnert sich an den Neuanfang in der Fremde. Zwischendurch tapst sein zweijähriges Enkelkind durch den Raum.
Die Anfangsphase war gar nicht einfach für Perikles, vor allem deshalb, weil er kein Wort Deutsch gesprochen hat. Der mangelnden Sprachkenntnisse wegen wurde er in die erste Klasse Volksschule eingeschult, obwohl er in Griechenland bereits die zweite Klasse besucht hatte. Beim nächsten Schulanfang im September 1965 – kurz nach der Geburt seiner kleinen Schwester Cornelia – sprach Perikles bereits passables Deutsch. „Ich habe die Sprache vor allem beim Spielen mit anderen Kindern gelernt“, erklärt er.
Nach Perikles‘ 15. Geburtstag befand ihn sein Vater alt genug, um ab nun zum Haushaltsbudget beizutragen. Er meldete Perikles in dem Wirkerei-Betrieb an, bei dem er selber seit Jahren beschäftigt war. Perikles gehorchte, verließ die Schule, begann zu arbeiten, aber nicht lange. Die Wirkerei gefiel ihm gar nicht.
Sein Bruder Niko war zu dem Zeitpunkt im Krankenhaus Feldkirch als Krankentransporteur tätig. Er verhalf Perikles zu dem gleichen Job. So hat Perikles‘ Berufslaufbahn im Krankenhaus Feldkirch in der Ambulanz, auf der Wöchnerinnenstation sowie auf der Gynäkologie begonnen. Dann wirkte er als Assistent in der Abteilung Innere Medizin beim Aufbau der Endoskopie-Untersuchungen und später der Sportmedizin mit. 23-jährig wechselte er ins Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie in Rankweil. 36-jährig wurde er diplomierter psychiatrischer und neurologischer Krankenpfleger. „Die Ausbildung habe ich mit Unterstützung von meiner Frau geschafft“, betont Perikles. „Damals hatten wir schon unsere vier Kinder.“ Dimitri, Markus, Nicole und Lukas sind zwischen 1981 und 1988 zur Welt gekommen. Ehefrau Ruth – sie ist Bregenzerwälderin – hat er kennen und lieben gelernt, als sie noch Krankenpflegeschülerin war. Verheiratet ist das Paar seit vier Jahrzehnten. Seit etwa 30 Jahren ist Feldkirch der Wohnort der Familie Mylonas.
Zweites Diplom mit 46
Perikles war 46, als er sich in Graz zur diplomierten Hygienefachkraft ausbilden ließ. Daraufhin war er im Krankenhaus Rankweil sechs Jahre für Krankenhaushygiene und Infektionsvorsorge tätig, unterrichtete zehn Jahre Hygiene in der Krankenpflegeschule für Psychiatrie und Neurologie und verrichtete weitere sechs Jahre Pflegedienst auf der psychiatrischen Akutstation. Nach insgesamt mehr als 20 Jahren auf der Schwerkrankenstation für Neurologie sowie der Intensivstation für Psychiatrie hat Perikles nun entschieden, dass der Zeitpunkt gekommen ist, aufzuhören: „Am 1. September gehe ich in Pension.“ Ein bisschen fürchte er sich schon davor, „unsichtbar zu werden und in Vergessenheit zu geraten“, gibt er zu. Aber seine Familie – vor allem die drei Enkelkinder – und seine Hobbys, wie Segeln, Motorrad fahren, Angeln, Wandern, Radfahren, Skifahren und Schneefiguren modellieren, werden ihn davor bewahren, solch tristen Gedanken nachzuhängen. Und das für ihn so wichtige Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit kostet er aus, „wenn ich mit meinem Segelboot auf dem Bodensee dahingleite“.
Heimweh nach Griechenland? „Nein. Ich bin längst hier in diesem wunderbaren Land angekommen. Mein Griechenland ist hier.“