Graubereiche
Dass der Verfassungsgerichtshof kürzlich die Beihilfe zur Selbsttötung für zulässig erklärt hat, ist rasch wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Das hat nicht nur mit der Überlagerung durch die Coronapandemie zu tun, sondern ist auch Zeichen eines gesellschaftlichen Wertewandels. Das Selbstbestimmungsrecht nicht nur über das eigene Leben, sondern auch den eigenen Tod ist in der westlichen Welt schon lange enttabuisiert. Die Religionsgemeinschaften können dem nur noch dort wirksam entgegentreten, wo sie – wie in islamischen Staaten – einen bestimmenden Einfluss haben. Dass geänderte gesellschaftliche Maßstäbe auch in die Rechtsprechung der obersten Gerichte einfließen, ist keine Überraschung, zumal dann nicht, wenn der Gesetzgeber darauf nicht ausreichend reagiert hat.
Ein offenkundig einflussreiches Argument in den Beratungen des Verfassungsgerichtshofes war die mit den Patientenverfügungen eingeführte Möglichkeit, die Einleitung oder Fortsetzung lebenserhaltender medizinischer Behandlungen verweigern zu können. Wenn sie abgesetzt werden, führe das zwangsläufig zum Lebensende, und die Grenze zur Selbsttötung sei fließend geworden. Daher sah der Verfassungsgerichtshof eine juristische Gleichwertigkeit, ein lebenserhaltendes Medikament wegzunehmen oder ein lebensverkürzendes Medikament zur Verfügung zu stellen. Dass den Richtern eine völlige Freigabe der Beihilfe zur Selbsttötung allerdings selbst nicht ganz geheuer war, geht aus der Erwartung hervor, dass der Gesetzgeber bis Ende nächsten Jahres gesetzliche Regelungen gegen Missbrauch schafft – wie sie etwa in der Geschäftemacherei mit Sterbehilfe oder bei zweifelhafter Selbstbestimmungsfähigkeit liegen könnten. Auch die Frage, ob die Zulässigkeit der Sterbehilfe ganz allgemein gilt oder auf Fälle eines bestimmten Krankheitsstadiums eingeschränkt ist, wird zu klären sein. Und auch in Österreich wird eine Entscheidung des deutschen Bundesverwaltungsgerichts für Diskussionen sorgen, wonach schwer und unheilbar Kranke Anspruch auf Medikamente zur schmerzlosen Selbsttötung haben und der Staat den Zugang nicht verwehren dürfe. Und in Fällen, in denen Sterbewillige das tödliche Medikamente nicht mehr zu sich nehmen können, weil sie beispielsweise nicht mehr selbstständig aus einem Glas zu trinken vermögen, beginnt ein Graubereich zur Tötung auf Verlangen. Sie ist keineswegs deshalb nach wie vor strafbar, weil der Verfassungsgerichtshof das bestätigt hätte. Er hat die beantragte Aufhebung der Strafbestimmung nicht inhaltlich abgelehnt, sondern den Antrag aus eher formalen Gründen gar nicht in Verhandlung genommen. Der Nationalrat ist jetzt gefordert, eine solche unheilvolle Lawine frühzeitig aufzuhalten.
„Der Nationalrat ist gefordert, eine solche Lawine aufzuhalten.“
Jürgen Weiss
juergen.weiss@vn.at
Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.
Kommentar