Der Geschichtenzuträger – Teil 4/10
Nachdem ich Karl dreimal eher unfreiwillig im Zug gegenüber gesessen war, hat es sich beim vierten Mal eingespielt. Ich akzeptierte ihn. Es bedurfte keiner Vorrede. Er habe jetzt auch „Die Scham“ von Annie Ernaux gelesen, obwohl er sich dachte, es wird ein Frauenbuch sein.
„Es gibt nur gute und schlechte Bücher“, sagte ich, „alle anderen Bezeichnungen können Sie vergessen.“
„Ich habe es gelesen“, sagte Karl, „weil Sie es gelesen haben, und wissen Sie, was mich schockiert hat?“
„Sagen Sie es mir.“
„Es war dieser eine Satz“, sagte Karl. „‚Hinterher machten wir zu dritt eine Radtour aufs Land.‘ Das muss man sich vorstellen. Nachdem das Mädchen zugesehen hatte, wie der Vater versuchte, die Mutter tot zu schlagen, und dann machen sie eine Radtour aufs Land, alle drei.“
„Nach einem Streit sagte ich zu meinen Kindern, dass wir jetzt endgültig alle wahnsinnig geworden sind.“
Ich denke: Es musste ja weitergehen. Katastrophen passieren und vergehen. Nachdem die Schriftstellerin diese Szene beschrieben hatte, war es so, als hätte sie das Unglück weitergegeben. Sie hatte dabei ein schlechtes Gewissen, als wäre sie schuld. Die Mutter lebte, der Vater starb zwanzig Jahre später.
Karl erzählte von seinem Vater, der seinen Kumpels berichtet hatte, nur um anzugeben, er habe ihn, den Sohn, fast totgeschlagen, nur weil er so vorlaut gewesen war. Dabei war es nur eine leichte Ohrfeige gewesen. Es gab demnach den gesellschaftlichen und den privaten Vater. Der eine brutal, der andere, wirkliche nicht. Das beruhigt.
Männer behandeln ihre Frauen vor anderen von oben herab, und dann zu Hause entschuldigen sie sich, wollen Buße tun, indem sie reumütig Treppen fegen oder das Badezimmer putzen.
Nach einem Streit sagte ich zu meinen Kindern, dass wir jetzt endgültig alle wahnsinnig geworden sind. Es klang wie eine Entschuldigung, und alles war gut.
„Wissen Sie, was ich gerade im Standard lese?“, fragte Karl. „Ein amerikanischer Schauspieler duldet es nicht, dass in seinem Luxushaus gegessen wird. Seine Angestellten müssen einige Meter vor das Haus treten und das Essensgeschirr auf der Gartenmauer abstellen.“
Ein Gedanke legt sich über den einen und zwei andere legen sich darüber: Nehmet und esset, denn das ist mein Leib, den ich für euch hingegeben habe zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedenken.
Schräg gegenüber saßen zwei tätowierte Männer, der eine trug seinen Arm im Gips, der andere telefonierte mit seiner Freundin. Gerade sagte er: „Schöne Grüße von deiner Geldbörse, ich geh jetzt shoppen.“ Dann schenkte er dem Mann mit dem Gips einen Fünfziger. Beide lachten.
Ich sah Karl an und er sah mich an.
„Komischer Tag heute“, sagte ich.
„Sehen Sie nur“, sagte Karl, „wie schwarz der Himmel ist.“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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