Niedergelassene Ärzte als Prellböcke

Vorarlberg / 15.12.2021 • 04:00 Uhr
Niedergelassene Ärzte als Prellböcke
Die Coronaschutzimpfung ist Christian Hilbe wichtig. Er steht dazu. VN/Stiplovsek

Auch sie bekommen Drohungen, Beschimpfungen und Frust ab.

Lustenau Beschimpfungen, Drohungen, Übergriffe: Der pandemiebedingte Ärger der Volksseele kocht auch in den Praxen der niedergelassenen Ärzte über. Patienten, die nicht warten wollen, kein Verständnis für die Schutzmaßnahmen in der Ordination zeigen oder ihren Frust in E-Mails abladen: Christian Hilbe (48) und seine Assistentinnen haben das alles schon erlebt und erleben es immer wieder. Der Allgemeinmediziner aus Lustenau versteht die Unsicherheit vieler Menschen, nicht jedoch die teils massiven Unmutsbekundungen. „Wir wollen doch alle nur helfen, in der Niederlassung wie in den Krankenhäusern, und doch scheint es nie genug zu sein“, schildert er seine Gefühlslage. Besonders renitente Patienten verweist er aus der Ordination, so sie nicht ernsthaft krank sind. „Alles muss man sich nicht bieten lassen“, merkt Hilbe an. Deshalb sein genereller Appell an die Bevölkerung, sich in Geduld zu üben. „Es nützt niemandem, wenn Ärzte wegen Überarbeitung ausfallen“, gibt er zu bedenken.

Oft muss Christian Hilbe auch nach Feierabend noch Beschwerdemails bearbeiten.
Oft muss Christian Hilbe auch nach Feierabend noch Beschwerdemails bearbeiten.

Gestiegener Aufwand

Einschränkungen in den Spitälern blieben auch im niedergelassenen Bereich nicht ohne Folgen. Die Anforderungen sind deutlich gestiegen, wie ein Vergleich aus den Jahren 2019 und 2021 zeigt. Herangezogen wurde dafür das zweite Quartal. Hatten die 169 Allgemeinmediziner 2019 noch 478.553 Patientenkontakte, was 2831 Kontakte pro Mediziner entspricht, waren es im gleichen Zeitraum des heurigen Jahres schon 522.294 Patientenkontakte bei 165 Allgemeinmedizinern. Das ergibt pro Arzt 3165 Patientenkontakte. Doch nicht nur die Patienten wurden mehr. „Der Bürokratie- und Dokumentationsaufwand ist ebenfalls gestiegen“, nennt Christian Hilbe die telefonische Krankschreibung und das Versenden von Rezepten an Apotheken als Beispiel. Dazu kommt noch die Flut an Informationen sowie neuen Bestimmungen und Vorgaben. 

Zeit für eine Pause bleibt Christian Hilbe in seinem bewegten Ärztealltag nicht.
Zeit für eine Pause bleibt Christian Hilbe in seinem bewegten Ärztealltag nicht.

Um die vielen Anrufe bewerkstelligen zu können, hat Hilbe eine Assistentin zum Telefonddienst abgestellt. „Von 8 bis 17 Uhr sitzt sie ununterbrochen am Telefon“, verdeutlicht Hilbe. Besetzte Leitungen geraten dennoch zum Aufreger und ziehen Vorwürfe nach sich, das Telefon sei dauernd besetzt und man bekäme keinen Termin. „Da verspürt man dann manchmal schon auch Ärger“, räumt der Arzt ein. Seit einigen Wochen bietet Christian Hilbe auch Coronaschutzimpfungen an. Die bedeuten zusätzliche Arbeit, aber sie sind ihm wichtig, weil er einen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten möchte. Er setzt auf Aufklärung, was Diskussionen mit impfkritischen Patienten jedoch nicht verhindert. Hilbe stellt sich ihnen, auch wenn das Zeit und Energie kostet, aber: „Es gibt keine Alternative zur Impfung“, vertritt er diesbezüglich eine klare Meinung.

Appell an menschliche Tugenden

Die Arbeitstage sind lang. Pro Tag behandelt der Allgemeinmediziner 100 bis 120 Patientenanliegen. Er hätte gerne mehr Zeit für die Menschen, aber das Kassensystem lasse das kaum zu. Christian Hilbe bezeichnet sich zwar als Befürworter dieses Systems, doch es basiere auf Quantität und setze die Ärzte unter Dauerdruck. Dieses Problem sei nur mit mehr personellen und finanziellen Ressourcen sowie Erleichterungen beim Zugang zum Medizinstudium zu lösen. Den Impfgegnern lässt er ausrichten: „Demonstrationen vor Intensivabteilungen und solidaritätsverweigernder Egoismus haben auch in einer Demokratie nichts verloren.“ Der Mediziner hebt menschliche Tugenden wie Solidarität und die Fähigkeit, Krisen zu überwinden hervor: „Die sollten wir wieder in den Vordergrund stellen!“