„Axel, ich lasse dich los, du kannst gehen“

Vorarlberg / 20.02.2023 • 18:52 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Axel (vorne) mit seinen Eltern Petra und Günter und seinem Bruder Jens. Das Foto wurde ein Monat vor Axels Tod aufgenommen.
Axel (vorne) mit seinen Eltern Petra und Günter und seinem Bruder Jens. Das Foto wurde ein Monat vor Axels Tod aufgenommen.

Petra Geißelmann (63) verlor ihren Sohn. Sein Tod kündigte sich ihr im Traum an. „Gott forderte mich auf, ihn loszulassen.“

BREGENZ Als kleines Mädchen fühlte sich Petra Geißelmann (63) fremd auf Erden. „Ich wollte zurück nach Hause, zu den Engeln im Himmel.“ Diese Sehnsucht war so stark, dass das Kind seiner Mutter sein Leid klagte. „Mama, ich passe nicht hierher.“ Mit sechs Jahren erkrankte das Mädchen an einer Lungenentzündung, „vermutlich, weil ich wirklich gehen wollte“. Das Kind litt nicht. „Es fühlte sich leicht an. Ich war auf dem Weg nach Hause.“

Beinahe ertrunken

Mit elf Jahren wäre Petra beinahe im Hallenbad ertrunken. „Ich bekam Krämpfe in den Füßen und ging unter. Und dann war es nur noch schön.“ Petra sah ihren Körper von oben und nahm wahr, was unten passierte. „Der Bademeister aß gerade ein Wurstbrot.“ Sie selbst fühlte sich geborgen, war in die schönsten Farben eingetaucht und hörte wunderschöne Musik. Aber die Seligkeit hielt nicht an. „Plötzlich war es dunkel. Ich war wieder da, am Beckenrand. Eine Mitschülerin hatte mich gerettet.“ Nach dem Geschehnis hatte sie das Gefühl, „dass ich in der Nähe meiner Heimat war“. Im Lauf der Jahre verblassten die Erinnerungen an das Nahtoderlebnis. „Das Leben nahm seinen Lauf. Ich wurde Volksschullehrerin.“ Der Beruf war Berufung. Aber die größte Bedeutung in ihrem Leben hatte die Familie. Petra schenkte zwei Söhnen das Leben: Axel und Jens. Doch das Leben besteht nicht nur aus Höhen. 2008 erkrankte Petra an Brustkrebs. Sie verfiel nicht in die Opferrolle. „Für mich war die Krankheit eine Aufgabe, von der man was lernen kann.“ Die zweifache Mutter sah im Krebs keinen Gegner, der bekämpft werden muss. „Kämpfen ist Krieg.“ Vielmehr akzeptierte sie ihn.

Nur zwei Jahre später ereilte die Familie abermals ein Schicksalsschlag. Axel, der erstgeborene Sohn, erkrankte schwer. „In seinem Rückenmark wucherte ein Tumor. Die Ärzte gaben ihm noch drei Monate.“ Im Juli 2011 starb Axel, der vor seiner Erkrankung ein begeisterter Wasserretter gewesen war. In der Nacht vor seinem Tod träumte Petra von ihm. „Im Traum sagte Axel zu mir: ,Mama, du kannst mich jetzt loslassen. Er hat gesagt, ich kann gehen.‘“ Petra wachte auf, nickte dann aber erneut ein. Der Traum kam wieder. „Und wieder sagte Axel zu mir: ,Lass‘ mich los. Er hat gesagt, ich kann gehen.‘“ Der dritte und letzte Traum in dieser Nacht war besonders eindrücklich. „Der ganze Raum war in goldenes Licht getaucht. Eine große Hand kam aus dem Licht, es war die Hand Gottes. Eine Stimme sagte zu mir: Du kannst ihn loslassen, er kann gehen.“

„Ich hörte mich schreien“

Am Morgen darauf musste Axel ins Spital, weil sich sein Zustand verschlechtert hatte. Petra zündete zu Hause eine Kerze an und legte sich in Axels Bett. „Ich wusste, was ich zu tun hatte. Es waren die schlimmsten Worte, die ich je aussprechen musste. ,Axel, ich lasse dich los. Du kannst gehen‘, sagte ich laut zu ihm.“ Abends kam Petras Mann vom Spital heim, nahm sie in den Arm und sagte: „Axel geht es gut, aber er ist nicht mehr bei uns.“ Es waren die schrecklichsten Momente im Leben von Petra. „Ich hörte mich schreien. Der Schmerz war so furchtbar. Es war, als ob man mir ein Teil vom Herzen herausgerissen hätte.“ Im Spital verabschiedete sie sich von ihrem Sohn. „Er lag friedlich im Bett, mit einem Lächeln im Gesicht. Das tröstete mich. Ich wusste, dass er jetzt in den Händen Gottes war.“

Vor der Beerdigung ließ sich Petra von einem Körpertherapeuten behandeln. „Ich war ganz bei mir. Plötzlich fand ich mich in der Natur wieder. Ich sah Axel unter einem Wasserfall. Lachend rief er mir zu: ,Hey Mama, schau mal her. Mir geht es super. Ich kann schwimmen, ich kann gehen, ich kann leben. Mama, bitte lache und lebe.“ Petra war sich jetzt sicher, dass es Axel dort, wo er war, gut geht. „Ich ging glücklich zur Beerdigung.“ Doch danach kam die Trauer. „Am liebsten wäre ich Axel nachgefolgt, weil ich wollte, dass der Schmerz nicht mehr da ist. Aber ich erkannte, dass das eine Form von Egoismus ist.“ Petra ließ ihre Gefühle zu. Sie fing an, sie zu malen. „Zu jedem Bild schrieb ich dazu, was es ausdrückt.“ Daraus entstand das Buch „Eintauchen in mein Herz“. VN-kum

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