Es ist die Angst

Ohne Angst kann man nur sein, wenn nie ein Unglück passiert ist, sei es nun groß oder klein.
Bevor die Frau aus dem Haus ging, nahm sie sich vor, behutsam zu sein, mit sich und den Menschen. Unbekümmert zu sein. In diesem Wort versteckt sich schon der Kummer.
Nur nicht daran denken, was alles passieren könnte. Sie sah zwei Schulmädchen Hand in Hand mitten auf der Straße. Am liebsten hätte sie ihnen zugerufen: Geht zur Seite, achtet auf den Verkehr! Gleich dachte sie, zum Glück haben die Kinder den Schutzengel. Sie hätte sich gewünscht, ihren Schutzengel zu kennen, gewiss hatte er sie schon vor Schlimmem bewahrt.
Schluss jetzt. Kopf hoch. Hinaus in die Welt!
Sie zog den Koffer hinter sich her, ihre Hände waren kalt. Eine Katze lief ihr entgegen, sie hatte eine Amsel im Maul. Ein Kind riss sich von der Mutter los und rannte ihr davon.
Bevor die Frau aus dem Haus ging, nahm sie sich vor, behutsam zu sein, mit sich und den Menschen.
Am Bahnhof standen rauchende Jugendliche nahe an den Geleisen. Gern hätte sie die Frau ermahnt, sie hielt sich zurück. Ihr war eingefallen, dass vor Monaten ein Schnellzug einen Kinderwagen samt Baby mitgerissen hatte.
Sie stieg in den Zug, suchte einen Platz nahe am Ausgang. Sie hatte wenige Minuten zum Umsteigen. Der Zug blieb unvermittelt stehen – eine Störung. Die Frau würde den Anschlusszug nicht erreichen. Nichts bewegte sich. Fahrgäste murmelten.
Ruhig bleiben, befahl sich die Frau, jetzt ist es schon zu spät, ich werde aussteigen und wieder einsteigen und nach Hause zurückkehren.
Gelassenheit, das wäre der geeignete Zustand, aber den hatte sie noch nicht erreicht. Sie zog sich zu Hause die Schuhe aus, warf die Straßenkleidung über eine Stuhllehne, ging ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Es dauerte nicht lange, da schlief sie ein. Sie hörte entfernt ihr Handy läuten. Soll es läuten, dachte sie, ich schlafe gleich weiter. Sie hatte ihre Hände nicht gewaschen. Die Türglocke läutete – erst neulich war sie ersetzt worden, die alte hatte zu zart geklungen, die neue machte Lärm. Trotzdem. Sie würde nicht aufstehen. Ein Paket vielleicht, eine Büchersendung, ein Einschreibbrief. Von mir aus, ich werde mich nicht zeigen. Sie trank Wasser, fütterte die Katze und legte sich wieder auf ihr Kissen. Die Hände wieder nicht gewaschen. Die Katze gesellte sich zu ihr. Ihr Fell war ein wenig feucht, wahrscheinlich kam sie aus dem Garten. Die Frau zog die Läden zu, öffnete das Fenster, ein wenig Luft zum Schlafen tut gut.
„Ich hoffe, du jagst nicht nach den Amseln“, sagte sie zu ihrer Katze. „Sie singen so schön.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.