Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Die Treppe

Vorarlberg / 03.04.2024 • 13:00 Uhr

Eleonore erzählte mir vom schlimmsten Tag. Bis dahin hatte sie gedacht, das Leben gehöre ihr.
„Ich war ein Mädchen, immer zu Späßen aufgelegt. Ich ging noch in die Schule, und kam ich abends nach Hause, wartete meine Mama mit Innigkeit. Am Tisch wollten sie alle, meine Eltern, meine drei Brüder, dass ich ihnen erzähle. Sie wussten, ich würde Kleines groß machen, übertreiben, was unbedeutend war. Nie war mir und meiner Familie Schlimmes geschehn. So dachten wir, ist es uns gegeben. Zu meinem Studium fuhr ich in die Großstadt. Da musste ich schon Abstriche machen. Ich war nicht mehr wichtig. Es gab einfach zu viele Leute. Ich mühte mich mit meinem Studium ab, hatte wenig Freunde, was mich zweifeln ließ. Die Männer nahmen mich kaum wahr, obwohl man mir geheißen hatte, ich wäre eine Schönheit, feurige Augen. Solche gab es viele. Ich war zu dick. Zu Hause war immer meine Figur gelobt worden. So oft es ging, fuhr ich zu meinen Eltern. Sie fanden, ich sähe schlecht aus, hätte abgenommen und sei so blass. Ob ich denn nichts esse? Es stimmte, ich schränkte mich ein, so gut ich es aushielt, hatte schon etliches an Gewicht verloren. Eine Kollegin zeigte mir, wie man sich vorteilhaft schminkt. Ich sah in den Spiegel und war mir fremd.
Einmal am Bahnhof – ich kam gerade von meinem Heimatdorf, war bepackt mit Essen, alles in einem Koffer – redete mich ein Mann an, er würde mir gern helfen, der Koffer sei zu schwer für mich. Er sah mich freundlich an, und mir wurde ganz heiß. Ich erlaubte ihm seine Begleitung. Wir gingen zügig zum Stadthaus, in dem ich eine kleine Wohnung hatte. An der Haustür bedankte ich mich. Er aber sagte, hier sieht es aus, als gäbe es keinen Lift. Er hatte recht. Das Haus war über hundert Jahre alt, ich wohnte im fünften Stock und musste zu Fuß die vielen Stufen hinauf. Er ging hinter mir die Treppen hinauf, mit meinem Koffer.

„Die Treppe war sehr steil, und mir ist es bis heute ein Rätsel, wie es mir beschieden war, ihn hinunterzustoßen.“

Wieder bedankte ich mich. Er stellte den Koffer ab und sah sich um. Er fand es hübsch, die Fenster, mit Blick auf den Dom. Ich reichte ihm meine heiße Hand. Da zog er mich an sich und ließ mich nicht mehr los. Ich schwitze, dachte, ich rieche nach Schweiß, so schämte ich mich. Erst dann fuhr die Angst in mich. Er warf mich aufs Bett, zerrte mich an den Haaren, ich wehrte mich. Der Mann war nicht schwer, und so gelang es mir, ihn vom Bett zu werfen. Ich rannte in ihn hinein, wie wir es als Kinder zum Spaß gemacht hatten. Verloren hatte, wer umgestoßen worden war. Es gelang mir, ihn vor die Tür zu treiben. Die Treppe war sehr steil, und mir ist es bis heute ein Rätsel, wie es mir beschieden war, ihn hinunterzustoßen. Ich hörte wie er aufschlug. Mir tobte das Herz. Ich habe es nicht geschafft, nach unten zu gehen. Ich hörte nichts, schloss die Tür ab, setzte mich aufs Bett, und so blieb ich drei Tage. Was war mit dem Mann geschehen? War er tot? Nie habe ich es erfahren
Immer wieder bilde ich mir ein, ich sehe ein Gesicht, und es ist das dieses Mannes.“

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.