Endlich richtig hier angekommen

Vorarlberg / 02.06.2024 • 15:09 Uhr
Endlich richtig hier angekommen
Die Künstlerin Rongshang Bai präsentiert Werke aus ihrer Bilderserie „Asiatische Gesichter“. HRJ

Die chinesische Künstlerin Rongshang Bai hat in Vorarlberg ein neues, zweites Leben begonnen.

RANKWEIL Ein heller Raum. Mehrere Tische. Bequeme Sessel. Zierpflanzen. Eine Staffelei. Malutensilien. Bilder, fertige und noch nicht fertige. Das Atelier, das Rongshang Bai in ihrer Wohnung in Rankweil eingerichtet hat, ist ein Ort, an dem man sich gleich wohlfühlt. Es ist der Ort, an dem die 46-jährige Chinesin ihre Kunstwerke erschafft, und an dem sie jetzt Einblick gewährt in ihr Leben, das im November 1977 in Shanghai begonnen hat und sich jetzt in Rankweil abspielt.

Endlich richtig hier angekommen
Rongshang Bai hat in ihrer Wohnung ein Atelier eingerichtet. Hund Lucky ist immer bei ihr.

Ein Kind pro Ehe
Rongshang Bai wächst als Einzelkind auf. „Ich entstamme der ersten Generation der Ein-Kind-Politik“, erklärt sie. Das Ein-Kind-pro-Ehe-Gesetz wurde von der Regierung unter Deng Xiaoping in China Ende der 1970er Jahre eingeführt und diente zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums. Erst seit 2016 sind aufgrund der Überalterung der Gesellschaft zwei Kinder pro Ehe erlaubt.

„Ich gab mir ein halbes Jahr Zeit um auszuprobieren, ob ich hier wirklich leben kann.

Rongshang Bai
Künstlerin


„Shanghai war damals schon eine internationale Metropole“, sagt Rongshang, „so hatte ich von Kindheit an immer mit Menschen aus aller Welt zu tun und somit ein aufregendes Leben.“ Nach neun Jahren Grundschule und drei Jahren Highschool studiert Rongshang vier Jahre an der Universität der Künste Umweltdesign in Verbindung mit Architektur. Während und nach dem Studium ist sie als Grafikdesignerin in einem Werbeunternehmen tätig, bis sie ihre eigene Agentur gründet. „Im Verlauf meiner beruflichen Karriere in Shanghai habe ich immer an großartigen Projekten gearbeitet“, erzählt Rongshang, die sich als „eine Art Workaholic“ bezeichnet. Unter anderem hat sie Chinas ersten Internetshop für Luxusmarken mitentwickelt und war Designerin beim Magazin Elle
2012 begegnet Rongshang dem Vorarlberger Michael Bertsch, der zu jenem Zeitpunkt in Shanghai lebt. Aus der Begegnung entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Geheiratet wird 2016.

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Malen ist eine große Leidenschaft der chinesischen Künstlerin: „In meinen Bildern drücke ich meine Gefühle aus.“


2018 wandert Rongshangs Sohn aus ihrer ersten Ehe nach Australien aus. „Damals kam mir der Gedanke: Auch ich brauche Veränderung. Ich wollte etwas Anderes, Neues in meinem Leben.“ So kommt es, dass Rongshang und ihr Mann beschließen, China zu verlassen und nach Vorarlberg zu ziehen. Seitdem lebt das Ehepaar in Rankweil.

Obwohl ihr Vorarlberg von zahlreichen Urlaubsaufenthalten nicht mehr fremd ist, hat die Chinesin Mühe, sich an die völlig andere Kultur zu gewöhnen: „Ich gab mir ein halbes Jahr Zeit, um auszuprobieren, ob ich hier wirklich leben kann.“ Das halbe Jahr ist um. Rongshang beschließt, die Herausforderungen anzunehmen und hierzubleiben.

Endlich richtig hier angekommen
Ein Teil von Rongshangs Reihe „Asiatische Gesichter“ waren in der Art Gallery Sylvia Janschek ausgestellt.


„Das Schwierigste für mich war, in meinem Metier Arbeit zu finden. Ich sprach noch nicht Deutsch und kannte den Markt nicht.“ Demnach beschreibt sie die erste Zeit als deprimierend, „denn Arbeiten und damit mein Wert in der Gesellschaft haben für mich eine hohe Bedeutung“. Rongshang fängt an zu malen, Aquarell zunächst, dann Öl. 2022 sind Bilder von ihr bei der „Kunscht im Kear z‘Röthis“ – eine Veranstaltung, bei der KünstlerInnen aus der Region ihre Werke an mehreren Standorten präsentieren – ausgestellt. „Das hat mich ermutigt, als Künstlerin weiterzumachen.“
An einem sonnigen Tag in diesem Frühling spaziert Rongshang durch Bregenz. Dabei entdeckt sie die Art Gallery Sylvia Janschek. Sie tritt ein und unterhält sich mit der Galeristin. „Im Laufe des Gesprächs fragte ich Sylvia, ob sie Interesse an meinen Bildern hätte.“ Sylvia Janschek antwortet mit dem Vorschlag, Bilder aus Rongshangs Serie „Asiatische Gesichter“ in die Ausstellung „Faces“ aufzunehmen, die auch Arbeiten eines weiteren Künstlers umfasst.

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In ihrer Wohnung in Rankweil lebt Rongshang Bai mit ihrem Ehemann seit sechs Jahren.

Endlich angekommen
Der Erfolg dieser im Mai veranstalteten Ausstellung ermutigt Rongshang, auch andere Galerien zu kontaktieren. Und bei der nächsten „Kunscht im Kear z‘Röthis“, Ende Juni, ist sie wieder dabei. „All das geht jetzt, seit ich Deutsch spreche“, resümiert sie. „Dadurch habe ich mein Selbstbewusstsein zurückbekommen.“ Und dadurch sei sie endlich hier richtig angekommen: „Das fühlt sich an wie der Beginn eines neuen, zweiten Lebens.“

Endlich richtig hier angekommen
Der Erfolg einer Ausstellung mit ihren Werken hat Rongshang ermutigt, als Künstlerin weiterzumachen. 


Heimweh nach Shanghai? „Nicht sehr stark, weil ich – dank dem Internet – mit meiner Mutter jeden Tag Kontakt habe.“ Außerdem habe sie viele Gegenstände aus China mitgebracht. „Meine Bücher, meine Tee-Sets, spezielles Papier für die chinesische Kaligrafie“, nennt sie Beispiele. Diese Dinge brauche sie, um sich zu Hause zu fühlen. Da ist auch noch der Mischlingsrüde Lucky. Der ehemalige Shanghaier Straßenhund begleitet Rongshang seit zehn Jahren. „Ich nehme ihn überall hin mit.“ Auch zum Deutschkurs im WIFI. „Dort sitzt Lucky auf dem Stuhl neben mir. Er ist glücklich. Ich bin glücklich.“