Wahlkampf und Streitkultur
„Jetzt streiten sie wieder“ lautet der häufigste Kommentar, den man zu den unzähligen Diskussionen und Kandidatenduellen in Zeiten des Intensivwahlkampfes hört. Die Reaktionen der Zuschauer schwanken zwischen Interesse und Parteilichkeit, zwischen Zustimmung und Ablehnung, zwischen Begeisterung und Ärger. Im Wahlkampf versuchen die Parteien nicht nur, eigene Ideen und Programme zu präsentieren, sondern sich durch Schlagworte von der Konkurrenz abzuheben und mit emotionalen Apellen die Wählerschaft zu mobilisieren.
„Gegen Angriffe kann sich jeder Gegner wehren, gegen Lob wäre er völlig machtlos.“
Aus psychologischer Sicht spielen bei dieser neben heftigen Emotionen und kognitiven Verzerrungen auch soziale Prägungen und unbewusste Kampfreflexe eine wichtige Rolle. Wahlkämpfe, die für uns – wenn wir ehrlich sind – auch einen gewissen Unterhaltungswert bieten, bergen somit das Potential für scharfe Debatten und erhebliche Konflikte. Sie stellen aber auch unsere Streitkultur auf den Prüfstand und wären eine große Chance, diese zu verbessern
Jede Streitkultur, welche den Umgang mit Meinungsverschiedenheiten beschreibt, ist ein Spiegel des gesellschaftlichen Klimas. Herrschen Sachlichkeit, Suche nach gemeinsamen Lösungen, Kompromissfähigkeit und respektvoller Umgang auch mit den Konkurrenten vor? Oder sind die Auseinandersetzungen von Skandalisierungen, spaltender Radikalsprache, Schuldzuweisungen, Diffamierungen, Entwertungen und persönlichen Untergriffen geprägt? Nicht der Streit ist das Problem, da der Wettkampf der Ideen ja Voraussetzung jeglichen Fortschrittes ist. Entscheidend ist viel mehr, in wieweit die Wahlwerber die Künste des Zuhörens und des Eingehens auf anders Denkende, der sachlichen Darstellung und des konstruktiven Kritisierens, der Wertschätzung und der Empathie beherrschen. Vielleicht sollten wir Parteien und Kandidaten einmal danach beurteilen.
Wie schwer es den Wahlwerbern fällt, auf destruktives Agieren zu verzichten, hat sich bei der ersten Elefantenrunde gezeigt. Als der Moderator am Schluss die Diskutanten ganz im Sinn einer positiven Streitkultur aufforderte, wenigstens in den letzten 3 Minuten über die neben ihnen stehenden Mitbewerber etwas Gutes zu sagen, hat es einer der Parteichefs selbst in diesem minimalen Zeitabschnitt nicht geschafft. Offensichtlich hat er die in Wahlkämpfen erstaunlicherweise ohnehin nie eingesetzte, auf den großen Sigmund Freud zurückgehende psychologische Binsenweit nicht ernst genommen: Gegen Angriffe kann sich jeder Gegner wehren, gegen Lob wäre er völlig machtlos.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
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