Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Im Hotel

Vorarlberg / 16.01.2025 • 07:05 Uhr

Ich war zu einer Lesung in ein Hotel in den Schweizer Bergen geladen. Ich sollte aus meinem Geschichtenbuch vorlesen. Im vornehmen Saal saßen unter fünfzig Frauen, soweit ich sehen und zählen konnte, neun Männer.

Ich hatte mir unterschiedliche Geschichten ausgesucht, es war, als präsentierte ich von einer Torte feine Schnittchen. Die Frauen trugen glitzernde Pullover über gemütlichen Hosen, Schmuck an Handgelenken und Hälsen. Die Stimmung passte. Auf Tischchen standen Drinks und Häppchen. Ein paarmal hörte ich einen Mann lachen, wie mir schien, war es immer der gleiche. Einige Frauen stimmten ein.

Es wurde geklatscht und bald stand im Speisesaal ein Essen bereit. Ich saß an einem Tisch mit sechs Frauen, alle in meinem Alter, alle mir freundlich zugeneigt. Es gab Speisen, deren Zutaten ich nicht ausmachen konnte. Nach dem Dessert wechselten die Damen zum Kamin und fragten mich, ob ich Futter für neue Geschichten brauche, sie hätten einiges aus ihrem Leben.

Nichts liebe ich mehr, als zuzuhören. Eine kleine Frau mit Stützapparat begann, es sei logisch, mit der Kindheit anzufangen und die ihre sei weiß Gott schrecklich gewesen. Niemals hätte sie sich als Mädchen gedacht, dass sie einmal in so einem schicken Hotel Urlaub machen könnte und das, so lange es ihr behagte. Die andern Frauen stimmten ihr zu, und es wurde zu einem Wettbewerb, wer die schlimmste Kindheit erlebt hatte. Von Hunger und Gewalt in kalten Wintern, von Demütigungen war die Rede. Ich fragte, wie es gekommen sei, dass sie sich dermaßen emporgearbeitet hatten.

„Durch Heirat“, sagte die kleine Frau. „Wie denn sonst!“

„Alle, wie sie dasitzen, haben demnach einen reichen Mann gefunden?“, fragte ich.

Ich sah vor mir Mädchen, die reichen Leuten  den Dreck wegputzten, so wie ich es in russischen Romanen gelesen hatte. Der reiche Sohn verliebt sich in so ein fleißiges Mädchen oder gar der Herr des Hauses. Es gibt Affären, ledige Kinder, die Mädchen werden von der betrogenen Herrinnen aus dem Haus gejagt. Vielleicht aber ist die Herrin gestorben, an einer rätselhaften Krankheit, vergiftet, und das Mädchen nimmt ihren Platz ein. Ich gebe zu, das Klischee ging mit mir durch.

„Mich würde interessieren“, sagte eine Dame, „wie Sie sich unseren Aufstieg vorstellen.“

Ich sagte nichts, weil ich nichts Falsches sagen wollte.

„Also“, sagte dieselbe Frau, „es war unsere Jungend und Schönheit, unsere Klugheit und Berechnung. Männer verliebten sich in uns, weil wir taufrisch waren, und ihre Frauen, solche wie wir jetzt“ – dabei lachte sie und spielte mit ihrem Collier – „wurden verlassen und großzügig abgefertigt.“

„Es gibt sicher Varianten“, sagte ich.

„Ja, zum Beispiel diesen Mann, der sich bei ihrer Lesung amüsiert hat, der ist mit seiner Frau zu Gast. Sie schlafen in getrennten Zimmern und sind reizend zueinander.“

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.