Mütterligs und Väterligs

Kolumne von Monika Helfer.
„Komm“, sagte das Mädchen zu ihrem Bruder, „spielen wir Mütterligs und Väterligs.“
Die Eltern waren für zwei Tage zu der Beerdigung einer Bekannten gefahren, und hatten sich überlegt, ihre beiden Kinder, sieben und acht Jahre alt, allen zu lassen.
Sie sagten: „Wir vertrauen euch. Öffnet niemandem die Tür, lasst niemanden ein! Steht ein Bettler vor dem Haus und bittet um Einlass, tut, als wärt ihr gar nicht da.“
Was die Kinder taten, was die Eltern taten. Mütterligs und Väterligs spielten sie. Sie zählten das Haushaltsgeld. Der kleine Vater zog das Jackett des großen Vaters an. Das Mädchen das Tanzkleid der Mutter.
„Wir teilen das Haushaltsgeld“, sagte die kleine Mutter. „Ich kaufe mir das Armband, das beim Schmuckgeschäft in der Auslage liegt, das mit den grünen Perlen, ich hab es dir schon gezeigt.“
„Auf keinen Fall“, sagte der kleine Vater und zog an der Krawatte, „dann ist das ganze Haushaltsgeld weg. Ich habe Hunger. Wir könnten uns eine Pizza bestellen. Das Auto hält vor dem Haus, und sie bringen uns eine Pizza Margherita.“
„Trinken wir Wein dazu?“, fragte die kleine Mutter. „Welchen?“
„Den vom Keller mit dem goldenen Papier drauf.“
Sie bestellten sich Pizza, und der kleine Vater öffnete die Weinflasche. Die kleine Mutter deckte den Tisch. Sie aßen und tranken. Die kleine Mutter trank drei Gläser Wein in einem Zug und rutschte unter den Tisch. Der kleine Vater rief die Rettung an, aber als die Sanitäter vor der Tür standen, öffnete er nicht. Er hatte nur ein Glas Wein getrunken und war bei Sinnen. Er räumte die Küche auf, schleppte die kleine Mutter ins Schlafzimmer und zog ihr das Tanzkleid aus. Es war voller Weinflecken. Er stopfte es in den Müllsack ganz nach unten. Dann legte er sich zur kleinen Mutter und erzählte ihr eine Gruselgeschichte. Sie handelte von einer Beerdigung, und statt der Leiche fielen die Trauergäste in die Grube und wurden mit Erde zugeschaufelt, darunter auch sie selbst. Sie schrien um Hilfe. Der kleine Vater fand seine Frau, und beiden gelang es, sich zu befreien. Sie schüttelten die Erde von ihrer Trauerkleidung und suchten auf dem Parkplatz ihr Auto. Wir hatten doch einen gelben Volvo, sagte der kleine Vater. Nein, sagte die kleine Mutter, er war dunkelblau, und es war ein Mercedes. Sie irrten umher. Der kleinen Mutter taten die Füße weh in den engen Beerdigungsschuhen, und so ging sie in schwarzen Strümpfen. Dem kleinen Vater war das peinlich, und er tat, als gehöre er nicht zu ihr. Als sie zuhause ankamen fanden sie ihre kleinen Kinder im Schlafzimmer.
So ging die Geschichte des kleinen Vater, die er der kleinen betrunkenen Mutter erzählte.
Als die echten Eltern, die großen, nach Hause kamen, fanden sie ihre Kinder im Ehebett.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.