Kolumne: Talent (6)
Rebeccas Talent war nicht zu übersehen. Der Schuldirektor meldete es bei einer sogenannten Hochbegabtenstelle, die wiederum vereinbarten einen Termin mit der Universität. Von alldem wusste Rebecca nichts. Wurde sie von einer ihrer Lehrpersonen gefragt, was sie mit ihrem Talent machen wolle, antwortete sie:
„Das ist ein Irrtum. Ich bin einfach ein bisschen schneller als meine Mitschüler. Ich lerne leicht auswendig. Ich besitze ein gutes Merkvermögen. Mathe und Physik machen mir Freude. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich übermäßig talentiert bin. Bitte, lassen Sie mich in Frieden. Mir gefällt, wie es ist.“
Aber die Eifrigen wollten unbedingt mitmischen, sie fühlten sich durch Rebeccas Talent erhöht. Als ob sie es wären, die ihr das Talent gegeben hätten.
Rebeccas Eltern wurden verständigt. Ein Herr von der sogenannten Überbegabtenstelle sagte, erstens heiße seine Stelle anders, zweitens, würde er es absolut verantwortungslos finden, wenn Rebecca nicht speziell gefördert werde.
Die Eltern schauten sich gegenseitig an, und der Vater sagte: „Rebecca selbst will nicht, dass sich etwas ändert. Bitte, gehen Sie.“
Ein Professor aus Wien, selbst ehemaliges Wunderkind, aber in Musik, läutete bei Rebeccas Eltern an. Er war extra aus Wien gekommen. Er trug eine rote Turnhose, Plastikschuhe, wie man sie verwendet, wenn man wild baden geht, ein weißes Unterhemd, das längst nicht mehr weiß war. Er hatte lange zottelige Haare und einen wirren Bart, er war klein, und sein Bauch sehr dick.
Er klopfte auf seinen Bauch und sagte: „Ich sehe, dass Sie mich anstarren. Also ich bin ein Genussmensch und bei einem Genie, wie es an mir bestätigt wurde, ist das Aussehen völlig unbedeutend. Wenn ich ein Konzert spiele, trage ich meinen einzigen schwarzen Anzug, der glänzt vor Dreck, und bin barfuß in Turnschuhen. Ist Ihre Tochter zu sprechen?“
Sie unterhielten sich im Wohnzimmer. Die Mutter servierte selbstgemachten Holdersaft und Aniskekse. Er fragte gleich nach dem Rezept, und die Mutter richtete ein kleines Paket für ihn.
Rebecca und der Professor fanden sich gegenseitig sympathisch. Er sagte, es sei nicht seine Idee gewesen, mit ihr zu sprechen, er tue dem Herrn, mit dem ihre Eltern bereits gesprochen hatten, einen Gefallen. Er fragte nach ihren Vorlieben:
„Physik und Mathematik.“
Ohne ein Vorzeichen verdrehte er die Augen und fiel in eine kurze Ohnmacht. Er röchelte. Es klang, als habe er schleimiges Wasser in der Lunge. Gleich erholte sich wieder. Das geschah dreimal hintereinander.
„Hab keine Sorge“, sagte er zu Rebecca, „das ist so bei mir. Genies haben Eigenarten. Welche Eigenart hast du?“
„Muss ich denn unbedingt etwas aus mir machen?“, fragte Rebecca.
Der Professor tätschelte mit seiner Hand ihre Wange und sagte: „Du musst gar nichts.“ Die Hand war trocken wie Mehl. „Meine Expertise wird vieldeutig ausfallen“, sagte er. Sie solle sich wieder keine Sorgen machen.
Dann verabschiedete er sich. Auf seiner Heimreise öffnete er das Paket und aß alle Aniskekse auf.
Sein Bericht an die Akademie begann damit: „In unserer heutigen Zeit gibt es Kinder, die erscheinen Menschen aus einer vergangenen Zeit seltsam. Freilich sind diese Kinder begabt. Was heute Begabung genannt wird, nannte man früher Genie, was aber nicht heißt, dass ein heute als begabt bezeichneten Kind unbedingt ein Genie sein muss.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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