Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Kolumne: Mir wächst alles über den Kopf

Vorarlberg / 03.12.2025 • 09:12 Uhr

„Mir wächst alles über den Kopf“, sagte die Frau.

Sie schaute sich im Zimmer um, holte die Schuhe unter dem Bett hervor, zog den Mantel, der nicht der ihre war, vom Haken und stürmte die Treppen hinunter, hinaus aus dem Haus. Gerade hielt ein Bus, und sie stieg ganz hinten ein, machte sich klein. So klein, dass sie nicht bemerkt wurde. Und schlief ein.

Dann schüttelte sie ein Mann am Arm.

„Wo bin ich?“, fragte die Frau.

„Sie müssen aussteigen“, sagte der Mann. „Das ist das Ende.“

Die Frau beeilte sich. Aber wohin? Wo sie war, war sie noch nie gewesen. Keine Häuser. Die Straße grenzte an eine Wiese. Zwei Ziegen grasten darauf.

 Es nieselte. Sie zog den Mantel eng um sich und suchte eine Wand, an die sie sich lehnen könnte. Es war ganz still.

Der Mann, es war nämlich der Busfahrer, stellte sich neben sie und sagte: „Erst morgen früh wird wieder ein Bus fahren. Wo werden sie so lange bleiben?“

Die Frau schüttelte den Kopf.

Der Mann ging weg, kam aber gleich wieder zurück. „Ich kann sie hier nicht so allein lassen. Das wäre nicht anständig. Hier gibt es nicht einmal Straßenlaternen. Die Temperatur wird in der Nacht unter null gehen.“

Obwohl ihm die Vorstellung lästig war, sich um die Frau kümmern zu müssen, bot er ihr an, mit ihm mitzugehen, er habe ein kleines Zimmer in der Nähe, und dann, am nächsten Morgen könne sie wieder an den Heimweg denken.

Es waren gerade fünf Gehminuten.

„Es ist nur ein Provisorium. Sie werden sich wundern“, sagte er, als sie die schmalen Treppen hinaufstiegen. Er schloss auf und drückte gegen die Tür. So wenig Platz war in dem Raum, und er brauchte Kraft, um alles mit der Tür beiseite zu schieben. Er schubste die Frau hinein ins Zimmer, und gleich fiel sie auf einen Kleiderhaufen. Er fiel ebenfalls. Es war so voll in dem Raum, kaum eine freie Stelle. Ganz hinten war ein schmaler Gang, der zu einer Kochnische führte. Der Busfahrer suchte einen Topf, nahm aus seinem Rucksack eine Packung Milch und drehte das Gas an.

„Heiße Milch wird uns guttun“, sagte er.

„Und was dazu?“, fragte die Frau. Sie hatte Hunger und stellte sich wenigstens ein Butterbrot vor.

„Nur Milch“, sagte der Busfahrer. „Die reicht für uns beide“.

Sie tranken abwechselnd aus dem Topf, bis nichts mehr da war.

Der Busfahrer nahm ein paar weiche Kleider vom Boden auf, legte sich in einem Winkel auf den Boden und deckte sich mit den Kleidern zu. Er riet der Frau, es ihm gleichzutun.

Schon war er eingeschlafen.

Die Frau stapfte über die Kleider auf ein Helles zu, das eine Luke war. Sie sah in einen Hof hinaus. Sie sah zwei Pferde, keine Menschen.

Ich kann nur eines tun, dachte sie, ich werde aufräumen, und wenn der gute Mann am Morgen aufwacht, soll er sich wundern.

Die Kleider auf dem Boden rochen wider Erwarten frisch und neu, ein wenig staubig waren sie, schlimmer aber nicht. Sie begann mit der Arbeit. Sie sortierte je ähnliche Stücke aus, stapelte sie zu Haufen. Pulloverhaufen, Hosenhaufen, Jackenhaufen und so weiter.

Hier, dachte sie, ist ein gutes Geschäft ausgeräubert worden. Sie arbeitete die ganze Nacht, hatte sicher zwanzig Haufen aufgestapelt, nach Farbe und Größe.

Der Mann wachte auf und lobte die Frau. Morgen wolle sie wiederkommen, sagte sie, und so lange arbeiten, bis alles eine Ordnung habe.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.