Die rührige Lecherin

Historische Biografie: Philomena Schuler-Walch (1895–1980).
Am Ortseingang von Lech passieren die Ankommenden zwei mächtige Häuser mit Namen: rechts das Hotel und Cafe Gotthard, links das Kaufhaus Filomena. Beide Häuser und Namen gehen zurück auf ihre Gründerin Philomena Schuler-Walch. Geboren am 19. April 1895 im Lecher Ortsteil Tannberg verbrachte sie eine karge Kindheit in einer Bergbauernfamilie. Früh schon musste sie in einem Nachbarhaushalt nach dem frühen Tod der Hausmutter Verantwortung übernehmen und harte Arbeit leisten. Einem Sprachforscher, der sie in den 1960er-Jahren nach ihrem Walser Dialekt befragte, erzählte sie von der arbeitsreichen Kindheit und Jugend und vor allem vom mühsamen Schulweg in den Wintermonaten. An vielen Morgen, wenn noch nicht gebahnt war, wateten die Kinder bis zum Bauch im Schnee.

1921 heiratete Philomena Schuler den Kriegsheimkehrer Gotthard Walch, der ebenfalls einer alten Lecher Familie im Ortsteil Omesberg entstammte. Walch war 1914 in die österreichische Armee eingezogen worden, geriet mit Tausenden anderen Soldaten 1915 in Przemysl in russische Gefangenschaft und kehrte erst 1920 in die Heimat zurück. Bis endlich im Sommer 1917 eine Nachricht aus Tschimkent (heute Symkent) in Kasachstan eintraf, hatte er als verschollen gegolten. Gleich nach seiner Rückkehr übernahm Gotthard Walch die elterliche Landwirtschaft im Haus Nr. 8, engagierte sich im Vorstand der Sennerei, erwies sich als ausgezeichneter Viehzüchter und wurde 1925 zum Bürgermeister von Lech gewählt. Seine Gattin schenkte ihm zwischen 1922 und 1926 vier Söhne. Die gesundheitlichen Schäden aus Krieg und Gefangenschaft erwiesen sich als unheilbar und setzten dem Leben des noch nicht 40-jährigen Familienvaters zu Jahresbeginn 1927 ein jähes Ende.
Nun war Philomena Walch mit vier kleinen Kindern auf sich gestellt. Mit Tatkraft und Gottvertrauen nahm sie ihr Schicksal an und in die eigene Hand. In der ersten Not erhielt sie von der Gemeinde als Bügermeisterwitwe eine kleine Unterstützung. Das Grabkreuz, das sie bei einem Dornbirner Kunstschlosser für ihren verstorbenen Gatten anfertigen ließ, war so besonders, dass es in den Zeitungen erwähnt wurde.
Bald zeigte die junge Witwe ihren wirtschaftlichen Weitblick, indem sie auf den langsam aufkommenden Tourismus setzte. Für die Landwirtschaft engagierte sie einen Knecht, damit sie für andere Aktivitäten Zeit und freie Hand hatte. Als erstes eröffnete sie in ihrem Haus einen Lebensmittelladen. Daraus sollte im Laufe der folgenden Jahre das Kaufhaus Filomena werden. Zugleich richtete sie eine Fremdenunterkunft mit anfänglich sechs Betten ein. Gerne vermietete sie günstig an Studenten, die sie im Sommer als Hilfe beim Heuen einlud. Als „gütige Herbergsmutter“ hieß es in einem VN-Artikel anlässlich ihres 80. Geburtstags, sei sie „vielen ehemaligen Schülern und Studenten in dankbarer Erinnerung“. In dieser frühen Zeit begann sie ein Netz auszulegen, das ihr bleibende und nützliche Bekanntschaften, treue Hausgäste und zuverlässige Professionisten verschaffte. Denn gebaut wurde nun laufend. Dem Laden folgte vis-à-vis dem Bauernhaus der Neubau eines Cafes mit Pensionsbetten. In Erinnerung an ihren früh verstorbenen Mann nannte sie den neuen Betrieb „Cafe Gotthard“ und der Lebensmittelladen wurde zu einer Gemischtwarenhandlung ausgeweitet und um eine Tabaktrafik ergänzt. Ihr planender Weitblick erkannte immer wieder neue wirtschaftliche Chancen, die sie mit Hartnäckigkeit und Verve verfolgte. Dabei war ihr keine Arbeit und Mühe zu viel, kein Risiko zu groß und keine Hürde unüberwindbar. Mit großer Härte gegen sich selbst, Genügsamkeit und starkem Willen ging sie unbeirrt ihren Zielen nach. Selbst nach einem Schien- und Wadenbeinbruch gab es keine Ruhe. Ihre Selbstbehandlung führte dazu, dass sie den längeren Teil ihres Lebens nur mit Krücke und Spezialschuhen gehen konnte.
Nächster Krieg
So wie ihr Mann in den Ersten Weltkrieg musste, traf es ab 1939 der Reihe nach auch „Philomenasch Buaba“, wie die vier Söhne in Lech genannt wurden. Als Gegnerin des Nationalsozialismus wurde sie mehrfach nach abfälligen Äußerungen mit der Drohung gewarnt, es könnte einen ihrer Söhne auch eine Kugel von hinten treffen. Doch alle vier kehrten unversehrt aus dem Krieg zurück. Nun verteilte Mutter Philomena die zukünftigen Rollen: Martin übernahm das Kaufhaus, Vinzenz machte in Bregenz eine Bäckerlehre und übernahm mit seiner Frau Ida Bäckerei, Cafe und Pension, Wilhelm führte die Landwirtschaft weiter und für Josef hatte die umsichtige Mutter eine Ausbildung zum Sattler und Raumausstatter vorgesehen. Für alle Söhne hatte sie Grundstücke für private Häuser mit Pensionsbetten gekauft, sodass im Ortsteil Omesberg eine ganze Walch-Kolonie entstand. Erst 1959 entließ die dominante Unternehmerin und Hausmutter die Söhne in die wirtschaftliche Selbstständigkeit, zog sich aus dem Geschäftsleben zurück, blieb aber eine Autorität im Hintergrund. Als Nona von nunmehr 23 Enkelkindern konnte sie nun mit Interesse und Wohlwollen deren Ausbildung verfolgen und darüber wachen, dass auch von der nächsten Generation sparsam gehaushaltet wird. Dazu hatte sie zuvor auch schon ihre Schwiegertöchter angehalten.

Zu dieser Zeit war Philomena Walch bereits eine über Lech hinaus bekannte Persönlichkeit; ganz fest in ihrer Heimat verankert, aber stets mit einem wachen Blick über den engen Tannberg hinaus. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die der in den 1920er-Jahren aufkommende Wintertourismus bot, hat sie früh erkannt und genutzt. Damit wurde sie zu einer Pionierin des neuen Lech, das bald nichts mehr mit dem mühsamen und kargen Bergbauernleben des alten Lech gemein hatte.
Eine echte Walserin
Trotz ihres hart erkämpften wirtschaftlichen Erfolgs und der neuen Einrichtungen und Gäste, die sie ins Dorf gebracht hatte, blieb Philomena Walch bis an ihr Lebensende ihren Prinzipien, ihren Werten, dem Dorf, dem Walser Dialekt und ihrem Glauben treu. Dieser bildete ihre wichtigste Stütze in allen schwierigen Lebenslagen und prägte ihr alltägliches Verhalten. Als sie im Alter von der Arbeit einigermaßen befreit war, besuchte sie täglich die Messe. Nicht immer dachten die Familienmitglieder im Trubel daran, dass die Nona von der Kirche abgeholt werden sollte. Das Warten nahm sie geduldig und betend hin. Wie ernst es ihr mit der Religion war, zeigen ihre Stellenanzeigen, in denen sie dem Personal neben guter Entlohnung „Familienanschluss in einem katholischen Haushalt“ bot.
Neben der Religion war ihr der Erhalt des Walsertums ein stetes Anliegen: Die Enkelinnen sollten am Sonntag in Tracht zur Kirche gehen und auch ihren Dialekt ließ sie sich durch Modisches nicht verfälschen. Auch nahm sie sich Zeit, um Gelegenheitsgedichte zu festlichen Anlässen zu verfassen. Nicht umsonst wurde sie mehrfach von Mundartforscher(inne)n als authentische altlecherische Auskunftsperson befragt und aufgenommen. Mit dem Spruch „im Militär gäts a ned so fi har“ begegnete sie Klagen über das Arbeitspensum. Durchhalten, auch wenn es schmerzt, war ihr Motto.
Ihren Stolz aufs Walsertum hat ihr Sohn Martin Walch als Obmann der Lecher Trachtengruppe und Mitbegründer der Vorarlberger Walservereinigung institutionell verankert.
Ihr ganzes Leben hindurch sei die Nona „willensstark, kontaktfreudig, einfallsreich und geschäftstüchtig“ gewesen, erinnert sich eine Enkelin. Damit ist eine Frau beschrieben, die für sich und ihren Heimatort Fenster in die moderne Welt geöffnet hat, sich selbst und ihrer Herkunft dabei immer treu geblieben ist. Die Pionierin des Skiortes stand selbst nie auf Skiern, sondern immer mit beiden Beinen fest auf Lecher Boden.
Am 27. Jänner 1980 verstarb die Tourismuspionierin im Haus ihres jüngsten Sohnes Josef, wo sie den letzten Abschnitt ihres arbeitsreichen und weitgehend selbstbestimmten Frauenlebens verbracht hatte.
Der Historiker Meinrad Pichler stellt in der Serie „Avantgarde“ historische Persönlichkeiten in und aus Vorarlberg vor, die auf wirtschaftlichem, sozialem oder kulturellem Gebiet vorangegangen sind beziehungsweise vorausgedacht haben und damit über ihre Zeit hinaus wirksam wurden. Neben biografischen Stationen gilt es deshalb vor allem zu zeigen, was diese Personen öffentlich Bleibendes geschaffen, erfunden oder erdacht haben. Da durch aktuelle Gegebenheiten wieder vieles neu gedacht und eingerichtet werden muss, sind innovative Köpfe immer gefragt.