Kommentar: Dünne Personaldecke
ÖVP-Clubobmann August Wöginger will also nicht einmal dann zurücktreten, wenn er zum Vorwurf des Missbrauchs der Amtsgewalt schuldig gesprochen würde. Als Klubchef nicht, als Abgeordneter nicht. Offenbar auch im vollen Bewusstsein, wie fatal das in der Öffentlichkeit ankommt. Das lässt zwei Rückschlüsse zu: Erstens: Die Rücktrittskultur ist in Österreich noch weit weniger ausgeprägt als in anderen Ländern. Zweitens: Die Personaldecke in der Volkspartei ist offenbar so dünn, dass ein Mann wie Wöginger für die Parteispitze unverzichtbar ist. „Koste es, was es wolle“. Vor allem Wählerstimmen.
„Wöginger will also nicht einmal dann zurücktreten, wenn er zum Vorwurf des Missbrauchs der Amtsgewalt schuldig gesprochen würde.“
Laut einer Gallup-Umfrage (aus 2021) vermissen zwei Drittel der Österreicher bei den heimischen Politikern jede Bereitschaft, Verantwortung für einen Missstand zu übernehmen oder ein Amt aus Achtung vor der Demokratie aufzugeben. Fast die Hälfte meint, dass eine bessere Rücktrittskultur das Vertrauen in politische Institutionen stärken würde. Fast vier Fünftel geben an, dass damit auch ihr Vertrauen in die Politik ansteigen würde. Die wirklichen Rücktritte kann man fast an den Fingern einer Hand abzählen. Bei FPÖ-Vizekanzler Strache und seinem Intimus Johann Gudenus war es die Ibiza-Affäre, beim ÖVP-Kanzler Kurz massive Korruptionsvorwürfe (und dass ihm sein damaliger grüner Vize Werner Kogler mit einem Misstrauensvotum gedroht hatte.)
Die Friedhöfe seien voll von Unersetzlichen. Dieses französische Bonmot, populär gemacht durch Charles de Gaulle, will sagen: Niemand ist wirklich unersetzlich – Institutionen, Organisationen und Staaten funktionieren auch ohne Einzelpersonen weiter. Gilt für Wöginger nicht? Er sei ein Mann des Ausgleichs, man könne gut mit ihm reden, er habe zu allen anderen Parteien eine gute Gesprächsbasis. Gibt es unter den restlichen 50 VP-Abgeordneten (m/w) wirklich niemand der/die das auch kann? Ist die Personaldecke wirklich so dünn? Das mit der dünnen Personaldecke gilt auch für den Kanzler. Christian Stocker verdankt seine Kanzlerschaft nicht zuletzt einer Notsituation, in die sein Vorgänger Nehammer die Partei durch den plötzlichen Rücktritt gebracht hat. In der Partei hat sich niemand sonst aufgedrängt. Jetzt krebst die ÖVP doch deutlich unter ihrem schlechten Ergebnis vom Herbst vor einem Jahr herum. Das führt dazu, dass viele in der ÖVP noch immer von einer Rückkehr von Sebastian Kurz träumen. Sobald Kurz, gerade wieder bei einer Weihnachtsfeier, Hof hält, huldigen ihm manche Spitzen von Partei und Industrie. Wenn einer überhaupt Kickl Paroli bieten könne, dann Kurz. Ungeachtet aller laufenden Verfahren gegen den Ex-Kanzler. Gewiss, Stocker ist zugute zu halten, dass er überhaupt eine Dreier-Koalition zustande gebracht hat. Doch seither warten wir auf den großen Wurf. Nur eine Anti-Kickl-Koalition zusammenzuhalten, ist auf Dauer zu wenig. Stocker wird jetzt rasch Leadership zeigen müssen, auch gegenüber den Bremsern in der eigenen Partei, vor allem gegenüber der Bauernlobby. Seitdem Trump täglich neue Zölle erfindet, sucht die europäische Industrie dringend neue Märkte. Dennoch bleibt Österreich derzeit bei seinem Nein zum Handelsabkommen der EU mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten, weil die Bauernlobby massiv gegen dieses Abkommen Sturm läuft. Fatal für ein derart exportorientiertes Land wie Österreich. Natürlich verdient die Leistung der Bauern Respekt. Aber wann steht endlich ein ÖVP-Obmann auf und sagt dem Bauernbund, dass er nicht die Zukunft des Außenhandels bestimmen und die heimische Wirtschaft in Geiselhaft nehmen darf?
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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