Kolumne: Überall Weh
Im Schindelhaus wohnte die alte Frau mit ihrer Katze. An den Festtagen gönnte sie sich viel Wärme, und deshalb heizte sie die Backröhre. Sie lag auf dem Kanapee in der Küche, über sich die Strickdecke, ein Geschenk ihrer Enkelin. Wo war sie, die kleine Große? Lange nichts mehr von ihr gehört. Die Strickdecke hat die Frau schon zwei Mal geflickt. An den Füßen saß Munzle, ihre alte Katze, die dem Alter nach schon tot sein sollte. Frau und Katze hatten einander lieb.
Die Frau hatte die Angewohnheit, das Radio immer eingeschaltet zu lassen, es lief Tag und Nacht. Stand ein Fremder vor der Tür, hörte er das Radio und dachte, da ist Einbruch ungünstig.
„Sie humpelte zurück durch den Keller ins Haus, sie fand den Lichtschalter nicht und kippte um.“
Der Frau schmerzten die Beine von den Zehen bis hinauf, wo längst keine Beine mehr waren, hinein in den Bauch, über die Brust, den Hals hinauf bis in den alten Geist. Überall Weh. Die Katze schlief. Sie wachte auf, als eine Jazztrompete aus dem Radio Lärm machte. Sie sprang vom Kanapee und kratzte an der Tür. Mühsam rollte sich die Frau vom Kanapee und öffnete.
Es gab eine Katzenklappe. Bald würde die Katze wieder da sein.
Die Frau träumte kurz weg, und im Traum kam ihre Enkelin und brachte dunkelrote Kirschen, sagte, nicht essen Großmutter, sie sind giftig. Gerade darum wollte die Großmutter die Kirschen essen, damit das Weh ein Ende hätte. Sie wachte auf, schlief wieder ein und bat die Enkelin, nach der Katze zu suchen. So kalt war die Nacht. Die Enkelin klammerte sich an die Großmutter und jammerte: Hilf mir Großmutter, ich bin mehr als die Katze, sie ist nur ein Tier, ich bin deine unglückliche Enkelin, mein Freund hat mich verlassen, und ich will sterben.
Da wachte die Frau wieder auf und sah, dass die Katze noch nicht wieder da war. Wie lange habe ich geschlafen, fragte sie sich. Wieder rollte sie sich vom Kanapee, gebückt humpelte sie durch den Keller, die Hintertür hinaus in den Garten. Sie trug ihre Hausschuhe, lief über den Frost auf der Wiese und rief: „Munzle, Munzle!“
Lange suchte sie. Sie humpelte zurück durch den Keller ins Haus, sie fand den Lichtschalter nicht und kippte um. Ein stechender Schmerz. Sie lag gekrümmt auf dem Boden und versuchte, sich aufzuziehen. Sie hörte die Katze durch die Klappe schleichen. Sie kam zu ihr hin, und die Frau sah, dass sie am Hals eine blutende Wunde hatte. Die Katze setzte sich vor die Frau und jammerte. Immer wieder versuchte die Frau das Aufstehen, zuerst auf die Knie, dann mit der Hand an die Wand, um sich abzustützen, aufrichten. Es misslang. Da kroch die alte Frau über die Treppe in die Küche hinauf, weil es dort warm war. Die Katze folgte ihr. Sie stieß die Tür zu und legte sich vor das Backrohr. Die Katze zog die Strickdecke vom Kanapee. Da lagen sie beide und warteten, bis sie sich an die Schmerzen gewöhnt hatten und die Sonne aufgehen würde. Noch leuchtete der Hundsstern zum Küchenfenster herein.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
Kommentar