Schulmassaker in Graz: Warum macht jemand so etwas, Herr Haller?

Reinhard Haller kennt die Psyche von Amokläufern und “School Shootern” wie kaum ein Zweiter.
Schwarzach “Zuallererst möchte ich den betroffenen Familien mein Beileid ausdrücken”, betont Psychiater, Psychotherapeut und früherer Primar der Maria Ebene Reinhard Haller gegenüber den VN. Der Gerichtssachverständige hat eine Vorstellung, wie schmerzhaft diese Katastrophe für die Familien in Graz sein muss. Und er kennt auch die andere Seite: Für die Gerichte sprach er schon mit zahlreichen Tätern und erstellte Gutachten zur Amokfahrt in Graz oder dem Schulmassaker in Winnenden. 2009 tötete der 17-jährige Tim Kretschmer ausgehend von seiner früheren Schule 15 Menschen und zuletzt sich selbst.
Kränkungen und kleine Stiche
Natürlich könne man zur Tat an der Schule in der Steiermark noch nichts Genaues sagen. Doch mit über 300 untersuchten Schulmassakern zeigen sich Tendenzen: “Ich möchte vor Schuldzuweisungen warnen”, betont der Gutachter. Dies sei nicht nur gefährlich, sondern werde der Situation nicht gerecht. Grundsätzlich handle es sich meist um junge Menschen, die die vielen kleinen alltäglichen Kränkungen des Lebens nicht verkraften. Seien es schlechte Noten, Schulverweise, das Gefühl von Mobbing oder Ausgrenzung durch die Mitschüler. “Einer der überlebenden Täter erzählte etwa, dass vor sechs Jahren bei der Klassenfahrt niemand mit ihm ins Doppelzimmer wollte”, zeigt Haller eine solche unüberwundene Kränkung auf. Da man jedoch “cool” sein müsse, werden diese jedoch nicht thematisiert, sondern wachsen wie ein Eiterherd und vergiften so nach und nach die Psyche.
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Dies ist oft mit Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen verbunden – und dem Bedürfnis nach Rache und Wiedergutmachung gegenüber der kalten Gesellschaft, die sie so verletzt hat. “Das Ziel ist meist nicht der ungerechte Lehrer oder Elternteil, sondern die verständnislose Gesellschaft”, erläutert Haller. Da die Schule der Lebensmittelpunkt der Jugendlichen ist, an dem viele der alltäglichen Kränkungen stattfanden, wird diese zur Projektionsfläche und Zielscheibe.
Oft unauffällig und isoliert
Dies kann sich vor der Tat in zwei Ausmaßen äußern: Die einen warnen vor ihren Plänen. “Sie wollen ihren Schmerz in die Welt hinausschreien”, fasst es Haller zusammen. Hier habe die Präventionsarbeit der vergangenen Jahre oft und gut gegriffen, betont Haller. “Hier hat man einiges entschärfen können”, betont er. Schwieriger sei es mit der zweiten Gruppe, die sich verschließen und unscheinbar ihr Leben fristen. “Sie sind von der Diskrepanz zwischen äußerer und innerer Welt geprägt”, warnt Haller. So ist ihre Gefühlslage oft unsichtbar, sie sind weder auffällig psychisch krank, noch auffällig im Konsum von Drogen oder Gewaltinhalten.
Zeigen, dass es nicht egal ist
“Man sollte sich immer vor Augen halten, dass sich solche Menschen isoliert und einsam fühlen”, fasst der erfahrene Psychiater die Situation zusammen. Sein Rat daher: Das Gespräch suchen und ihnen ermöglichen, über ihre Gefühle, Frustrationen und Kränkungen sprechen zu können, statt immer abgeklärt und cool sein zu müssen.
Dies gilt gerade auch bei schlechten Noten und Schulverweisen: “Diese müssen mit den Jugendlichen besprochen werden”, bittet er, hier Interesse an der Person und ihrer Perspektive zu zeigen. “Viele der überlebenden Täter betonten, dass viel mehr als der Schulverweis es sie kränkte, dass kein Mensch mit ihnen darüber sprach.”
Das weiß man über den Täter
Bei dem Täter handelt es sich laut Landespolizeidirektor Gerald Ortner demnach um einen 21-jährigen Österreicher. Der Mann verwendete zwei Schusswaffen, die er legal besessen hatte. Es handelte sich um eine Lang- und eine Kurzwaffe.
Bei der Attacke kamen zehn Menschen ums Leben, sechs der Opfer waren weiblich, drei männlich. Der Täter hat Suizid in einer Toilettenanlage begangen. Zwölf Personen sind – zum Teil schwer – verletzt.
Das Motiv des Einzeltäters war noch unklar. Der Mann war laut Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) ein ehemaliger Schüler der Bildungseinrichtung, der die Schule nicht abgeschlossen hatte. Er war bisher nicht amtsbekannt.