Sterben in den Bergen

Wetter / 17.10.2016 • 18:37 Uhr
Am liebsten hält sich Friedrich in den heimischen Bergen auf. Dort fühlt er sich wohl, dort ist sein Arbeitsplatz.
Am liebsten hält sich Friedrich in den heimischen Bergen auf. Dort fühlt er sich wohl, dort ist sein Arbeitsplatz.

Friedrich Juen hat in Sachen Lawinengefahr ein großes Erfahrungswissen.     

Gargellen. (VN-kum) Friedrich Juen war vor wenigen Tagen in Zürich und hat sich dafür eingesetzt, dass das Erfahrungswissen in Bezug auf die Lawinengefahr als Kulturerbe anerkannt wird bzw. dass dieses in das „Immaterielle Kulturerbe der Menschheit“ aufgenommen wird. Juen gehört seit 1999 der dreiköpfigen Lawinenkommission Gargellen an. Er entscheidet mit, ob die Gargellenstraße bei Lawinengefahr für den Verkehr gesperrt wird oder nicht.

42 Lawinentote

Seit 28 Jahren arbeitet der 48-Jährige für die Bergbahnen Gargellen. Unter anderem sprengt er auch Lawinen im Skigebiet. Eine gefährliche Arbeit. Einmal  wurde er von einem Schneebrett mitgerissen. „Daraus habe ich viel gelernt.“ Als Lawinensprenger ist er jeden Tag mit anderen Verhältnissen konfrontiert. „Der Schnee und die Windverhältnisse sind keinen Tag gleich.“ Jedes Jahr, so sagt er, lerne er etwas Neues dazu. „Ich sehe mich nicht als Experte, sondern als Lernender.“ Je mehr man wisse, desto vorsichtiger werde man. Wenn er eine Situation einschätzen muss, bezieht er auch sein Bauchgefühl mit ein und das Verhalten der Wildtiere. „Steinböcke und Gämse harren tagelang auf einem Felsen aus, wenn rings um sie herum Lawinengefahr herrscht. Erst wenn es sicher ist, queren sie die Hänge.“

Weil er viel im Gelände ist – auch im Sommer – kennt Juen die Lawinenzüge und ihre Abbruchgebiete. „17 Lawinenstriche gehen bis auf die Straße“, zeigt er auf, dass das Gargellental sehr lawinengefährdet ist. Er hat auch ausgeforscht, wo tödliche Lawinen in der Vergangenheit abgegangen sind. „Ich habe 2010 eine Lawinenchronik erstellt, die bis ins Jahr 1793 zurückreicht. Seit damals gab es im Gargellental 26 Unglücke mit 42 Toten.“ Als langjähriges Mitglied der Bergrettung barg Juen schon einige tote Lawinenopfer. Es ist ihm aber auch schon geglückt, dass er jemanden nach 20 Minuten lebend herausholen konnte. „Für unsereins ist das ein Hit. Das wiegt das Negative auf.“

Dennoch: Der Tod am Berg ist für den Gargellner nichts „Schiaches“. „Es ist nicht der schlimmste Ort zum Sterben.“ Er selbst würde es einem Tod im Spital oder auf der Autobahn vorziehen. „Lieber sterbe ich am Gandasee neben einer Zirbe als in einem Spitalsbett.“ Juen möchte dort hinscheiden, wo es ihm am besten gefällt. Und das sind die Berge. Dort lebt er. Dort ist sein Arbeitsplatz.

Wenn er zur Haustür hinausgeht, erblickt er die Madrisa, den Hausberg der Gargellner. Der Sohn eines Bauern baute sein Haus direkt hinter dem Maisäß seines Vaters. „Als Kind  habe ich dort oft das Vieh gehütet.“ Hier, am Fuße der Madrisa, fühlt er sich zu Hause. Er möchte nirgendwo anders leben. „Denn hier sind meine Wurzeln.“ Hier wandelt der Vater dreier Mädchen auf den Spuren seiner Vorfahren und bewirtschaftet als Nebenerwerbslandwirt das Land seiner Ahnen.

Seine tiefe Heimatverbundenheit zeigt sich auch in seinem Interesse für die Geschichte des Tals. Seit mehr als 20 Jahren engagiert sich Juen für den Heimatschutzverein. „Ich arbeite überall mit. Wenn ein altes Foto gesucht wird oder ein Sterbebildchen, bin ich die Anlaufstelle.“ Juen ist ein begeisterter Sammler von Sterbebildchen. Er belässt es aber nicht beim Sammeln. „Ich will wissen, warum derjenige gestorben ist, und forsche nach seinem Schicksal.“ So hat er herausgefunden, dass viele Menschen – darunter auch viele Kinder – im Gebirge gestorben sind, beim Hüten von Schafen, beim Suchen nach Pilzen oder beim Wandern.

Der Schnee und die Windverhältnisse sind keinen Tag gleich.

Friedrich Juen

Zur Person

Friedrich Juen

erstellte für das Gargellental eine Lawinenchronik, die bis ins Jahr 1793 zurückreicht.

Geboren: 29. Mai 1968

Ausbildung: Tischler

Familie: verheiratet, drei Töchter

Hobbys: Geschichte, Sammeln