Das unterschätzte Eis

Klimawissenschaftler haben dem abschmelzenden Eis am Südpol bisher keine große Beachtung geschenkt.
Washington. Wärmere Luft, wärmeres Wasser und dann auch noch die Schwerkraft: Diese Faktoren gemeinsam lassen das Eis im Westen der Antarktis möglicherweise schneller schmelzen als bisher angenommen. Damit würde auch der Meeresspiegel stärker steigen, wie aus einer neuen Studie hervorgeht.
Mithilfe von Computersimulationen errechneten die Forscher, dass gerade die Westantarktis anfällig für steigende Temperaturen ist. Im schlimmsten Fall könnte der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 dadurch etwa 46 bis 86 Zentimeter stärker ansteigen, als internationale Klimawissenschaftler noch vor drei Jahren vorhersagten.
Und selbst wenn die internationale Gemeinschaft den Ausstoß klimaschädlicher Gase moderat begrenzt – wie auf der Klimakonferenz im Dezember 2015 in Paris vereinbart –, wäre der Meeresspiegel den Vorhersagen zufolge immer noch acht bis 31 Zentimeter höher als zuvor angenommen. Bis zum Jahr 2500 fällt die Prognose noch einmal dramatischer aus. 13 Meter höher könnten die Meere ansteigen, so das worst-case Scenario.
Nicht nur kleine Veränderungen
„Mit diesen Zahlen würde der Planet aus dem All ganz anders aussehen, es geht nicht nur um kleinere Veränderungen und darum, welche Ortschaften mit stärkeren Sturmfluten rechnen müssen“, erklärt Robert DeConto, Klimawissenschaftler an der Universität von Massachusetts und Hauptautor der Studie, die im Fachmagazin „Nature“ erschien.
Die Südpolregion ist eine der großen Unbekannten, wenn Klimaforscher versuchen, die Auswirkungen des Klimawandels in den kommenden Jahrzehnten abzuschätzen. Die Wissenschaftler waren völlig überrascht, als sie im Westen des Kontinents Anzeichen für einen rapiden Eisverlust in den vergangenen zehn Jahren fanden. Der Weltklimarat der Vereinten Nationen (IPCC) schenkte der Antarktis in seinem jüngsten Bericht nur geringe Beachtung. Eine Eisschmelze dort werde nur einen Anstieg der Meeresspiegel um 18 Zentimeter bis 2100 zur Folge haben, erklärte der Rat.
Die Auswirkungen der Ausdehnung des wärmeren Wassers, der Gletscherschmelze und des Eisverlustes in Grönland seien in diesem Jahrhundert weitaus größer. Statt 18 Zentimetern errechnete DeConto im schlimmsten Fall einen Anstieg von 64 bis 105 Zentimetern allein durch die Eisschmelze in der Antarktis. Sollten die Treibhausgasemissionen zumindest moderat kontrolliert werden, seien es immer noch 26 bis 49 Zentimeter. Wenn die Welt aber entschlossen handelt und das Klima schützt, dann würde den Berechnungen zufolge die Antarktis gar nichts zum Anstieg der Meeresspiegel beitragen. Solche Zahlen sind aber nur weltweite Durchschnittswerte. An vielen Orten entlang der amerikanischen Ostküste könnte der Anstieg wegen der geologischen Gegebenheiten sogar noch 25 Prozent höher ausfallen, erklärt DeConto. Das gelte beispielsweise für die Hafenstadt Boston. „Nordamerika hat durch den Eisverlust in der Antarktis viel zu befürchten“, sagt der Klimaforscher.
Andere Studien konzentrierten sich auf die Auswirkungen der Erwärmung des Wassers unter der Eisdecke und auf die Erwärmung der Luft. DeConto rechnete noch die Folgen des sich sammelnden Schmelzwassers und des Eisabbruchs hinzu. Solche Bruchstücke können Hunderte Meter hoch sein und kollabieren unter dem schieren Gewicht des Eises. Das beschleunige die Eisschmelze, erklärt DeConto.
Chris Field, Klimaforscher am Carnegie Institute, sagt, die Studie zeige, dass die Welt durch die Kontrolle von Treibhausgasen etwas bewirken könne: Es gehe um den Unterschied zwischen steigenden Meeresspiegeln, die zu bewältigen seien, und extrem gefährlichen Bedingungen.