Klaus Hämmerle

Kommentar

Klaus Hämmerle

Noch kein Heilmittel für Weisheit

Extra / 09.07.2020 • 11:40 Uhr

Was hat die Institution Matura in den letzten Jahren nicht alles über sich ergehen lassen müssen. Erst wurde sie ihrer Individualität am Standort beraubt. Der Mathelehrer durfte nicht mehr hemmungslos seine Schwäche für Trigonometrie ausleben, der Englischlehrer hatte sich mit seiner Vorliebe für populäre Autoren wie Stephen King oder John Grisham zu zügeln, der Deutschlehrer musste seinen geliebten Willhelm Busch als potenzielles Reifeprüfungsthema gefälligst hintanstellen. Zu Coaches und Drillmeister wurden sie degradiert, die Pädagogen.

Die standardisierten Klausuren sind keine Freunde von speziellen Interessen und Neigungen. Das verträgt sich nicht mit Kompetenz­orientierung.

Damit nicht genug. Jetzt gerät die Matura mit ihrem Alleinanspruch als krönender Abschluss einer Schulkarriere ins Wanken. Nicht mehr ausschließlich mittels dem von zahlreichen Generationen praktizierten Ritual einer festlichen Prüfung sollen die Noten im Reifezeugnis ermittelt werden, auch die Jahresnote soll Berücksichtigung finden. Das wurde aufgrund der Coronakrise heuer so praktiziert. Jetzt sieht es so aus, als ob sich diese Form der finalen Beurteilung hält. Gut oder nicht gut? Das ist wie so vieles eine Sache des Zugangs. Das Miteinbeziehen der Jahresnote erlaubt eine umfassendere Beurteilung des Kandidaten in seiner Gesamtperformance an der höheren Schule. Es ist nicht nur der Tag X, der zählt. Ausreißer nach unten wie auch nach oben werden korrigiert. Die Bedeutung der Klausur sinkt.

Einige Spekulanten interpretierten die neuen Möglichkeiten bereits auf spezielle Weise. Sie demonstrierten in der Klausur Arbeitsverweigerung, im Wissen um ihren bereits gesicherten positiven Abschluss.

Die Matura in traditioneller Form lässt so etwas nicht zu. Der Kandidat muss seine Topleistung zum vorgeschriebenen Zeitpunkt abrufen. Er muss besondere Nervenstärke und Konzentration beweisen.

Er kann mit einer besonderen Darbietung die Schatten einer wenig ruhmvollen Schulvergangenheit loswerden. Das hinzubekommen, ist auch ein Zeichen von Reife. Natürlich kann es sich auch umgekehrt verhalten. Ein guter Schüler versagt genau dann, wenn es drauf ankommt.

Solche Geschichten schreibt aber auch das Leben. Trainingsweltmeister gewinnen kein Rennen, grundsätzlich fähige Menschen zerbrechen unter besonderen Belastungen.

Auf alle Fälle hat Corona auch die Matura infiziert. Und ein Heilmittel zur Herstellung von Weisheit für die beste Lösung ist noch nicht gefunden.

„Jetzt gerät die Matura mit ihrem Alleinanspruch als krönender Abschluss einer Schulkarriere ins Wanken.“

Klaus Hämmerle

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