Hinsehen im Jetzt
Meine Güte, wie lange ist es her, dass ich das Märchen vom „Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ gehört habe. Es müssen Lichtjahre sein. Ich kann mich auch nur an Bruchstücke aus der tragisch-schönen Geschichte erinnern. An die nackten Füße des Kindes, seine blaugefrorenen Finger, an die Furcht vor dem Vater, weil es an diesem kalten Wintertag keine Schwefelhölzchen verkauft hat, und an die Sehnsucht nach Wärme, die sich in den beleuchteten Fenstern der Stadt spiegelte.
Der Rest ist mir irgendwie verlorengegangen. Aber unlängst habe ich ihn wiedergefunden. Bei einer wunderbaren Veranstaltung mit Musik und Lesungen. Es waren sorgfältig ausgewählte Texte, die geboten wurden. Nichts Kitschiges, sondern Freudvolles, Hoffnungsvolles, dem Leben Zugewandtes. Auch wenn es für das Mädchen mit den Schwefelhölzchen kein gutes Ende gibt, macht seine Geschichte doch eines: nämlich Mut. In der düstersten Zeit seines kurzen Lebens hat das Kind alle Angst abgelegt, hat die Schwefelhölzchen angezündet. Bis zum letzten. Die Flammen haben ihm Bilder vorgegaukelt. Bilder von einem besseren Ort, den Lebende nicht zu sehen vermögen. An den sie nur glauben können. Oder nicht.
Das Mädchen ist gestorben, weil im Hier niemand hingesehen hat. Ein Märchen nur und doch so real. Wie oft übersehen wir Menschen, die unsere Hilfe brauchen würden. Wenn Sie am Christbaum die Kerzen entzünden, denken Sie an andere, nehmen Sie sie in Ihre Mitte. Auch jene, die nicht mehr da sind. Das wärmt und tröstet. Ich wünsche Ihnen fried- und freudvolle Weihnachten.
marlies.mohr@vorarlbergernachrichten.at
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