Weihnachten
„Ich bin müde“, sinnierte die betagte Dame, die mit einer jüngeren Frau, vermutlich einer Betreuerin, auf einer Bank saß und die letzte Wärme des Tages in sich aufsog. „Müde?“, insistierte die Begleitung fragend. „Vom Wandern auf dieser Welt“, erklärte die Seniorin prosaisch. „Wie bitte? Du bist für dein Alter noch rüstig und hast keine materiellen Sorgen“, erging sich die Begleitung in Erstaunen. Dann kam jene Bemerkung, die sich aus dem Gehörten fast aufdrängte. „Das stimmt schon“, räumte die Angesprochene ein. Nachsatz: „Aber ich bin allein, ich habe keine Familie mehr. Es gibt niemanden, bei dem ich mich wirklich fallenlassen kann.“ Ein Satz nur, doch er spiegelte die ganze Mutlosigkeit wider, in der sich die Frau offenbar verfangen hatte.
Es mag der Zeit geschuldet sein, die ihre Gedanken in diese trüben Bahnen gelenkt hatte. Weihnachten: Das Fest, an dem sich alle liebhaben, das überfrachtet ist mit Emotionen und hohen Erwartungen, die der Realität letztlich oft nicht standhalten. Die Hektik der Vorweihnachtszeit kann viel übertünchen. Das Loch reißt die Ruhe danach auf. Eines der größten Übel dabei ist wohl die Einsamkeit. Es wäre ein Leichtes, sich der Wehmut zu ergeben und über Gott und die Welt zu klagen. Tun Sie das nicht! Selbstmitleid ist keine Lösung. Im Gegenteil. Sie zieht einen nur noch mehr ins Tal der Tränen. Werden Sie aktiv. Gehen Sie unter Leute. Sehen Sie den Menschen neben sich. Er braucht Sie möglicherweise genauso wie Sie ihn. Nur muss einer den ersten Schritt tun. So bringen Sie Weihnachten in Ihr eigenes und das Leben anderer. Vor allem aber kann Weihnachten dann von Dauer sein. Ich wünsche Ihnen zufriedene Festtage und ein neues Jahr, das Ihnen jeden Tag viel Freude am Wandern auf irdischen Wegen bescheren möge.
Marlies Mohr
marlies.mohr@vn.at
05572 501-385