Meine Weihnachtsgeschichte
Unser Weihnachtsbaum kommt diesmal aus dem Wald. Einem echten Wald. Mit Erlaubnis eines Grundbesitzers durften wir zumindest ein bisschen Licht in das Dickicht eng nachwachsender Rottannen bringen. Das Weihnachtsmärchen komplett machte der Umstand, dass es der Schnee in der Nacht auf den dritten Adventsonntag sogar bis in unsere Lagen geschafft hatte und frostige Temperaturen dafür sorgten, dass er liegen blieb. Der Wald: ein Winterwunderland, durch das wir am Nachmittag stapften. Schnee fiel uns in die Krägen der dicken Jacken, wenn wir uns unter Bäumen durchduckten. Die Sonne schickte helle Lichtreflexe dort, wo sie durchs Geäst kam, und ließ den Schnee auf den Ästen wie Diamanten glitzern. Während der Suche schlich sich das Rilke-Gedicht vom Wind im Winterwalde in meine Gedanken. Es fühlte sich gut an, dort draußen zu sein und Weihnachten zu spüren.
Es war allerdings gar nicht so einfach, in dem Wust von Bäumen den einen Baum zu finden. So bereitwillig, wie es Rilke im Gedicht beschreibt, streckten uns die Tannen ihre Zweige nicht hin, um fromm und lichterheilig zu werden. Dafür erwies sich der Verwuchs als zu dicht, aber über all‘ den kleineren Bäumchen erspähten wir plötzlich ein größeres. Das sollte es sein. Was wir schließlich in der Hand hielten, war ein Zausel, zwar kerzengerade gewachsen, jedoch spärlich mit Zweigen versehen und weit weg von den wie mit einem Lineal gezeichneten Nordmanntannen. Wir packten den Baum trotzdem ein. Mit den passenden Accessoires lässt sich bekanntlich alles aufmöbeln.
Wir hübschten die magere Tanne schon ein paar Tage vor Heiligabend auf für den Fall, dass Phönix trotz allem in der Asche versinken statt auferstehen sollte. Alles an Rot und Gold, was sich in der Weihnachtsschachtel fand, wanderte ans Geäst, und siehe da, aus dem Zausel wurde ein ansehnlicher Christbaum, der uns schon viel Freude machte und dies auch in der einen Nacht der Herrlichkeit tun wird. Schönheit ist relativ. Wir sehen, was wir sehen wollen. Noch besser wusste es Antoine de Saint-Exupéry zu formulieren: Man sieht nur mit dem Herzen gut. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen frohe Weihnachten.
Marlies Mohr
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