Digitaler Schnuller als Entwicklungsrisiko

Schon die Kleinsten hängen oft mehrere Stunden täglich am Tablet oder Handy.
Schwarzach Sonja Gobara ist Kinderärztin und Familientherapeutin. Zudem leitet sie das Autismuszentrum „Sonnenschein“ in St. Pölten. In den vergangenen Jahren sei es zu einer deutlichen Zunahme von Autismus-Diagnosen bei Kindern gekommen, hielt die Expertin bei ihrem Vortrag in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs fest. Einerseits sei dies der vermehrten Aufmerksamkeit für das Thema geschuldet, andererseits einer differenzierteren Diagnostik.
Frühe Abklärung
Autismus-Spektrum-Störungen bringen große Auffälligkeiten in Sprache, Kommunikation und Sozialverhalten mit sich. Schon früh würden betroffene Kinder durch eine Hypersensibilität auf Reize sowie eine reduzierte Mimik und Gestik herausstechen, durch fehlenden Blickkontakt und Aufmerksamkeitsdefizite. „Häufig verwenden sie die Hand des Erwachsenen als Werkzeug oder fallen durch motorische Besonderheiten wie Zehenspitzengang auf“, erklärte Gobara. Verhaltensstereotypien, ein markantes Interesse an Details und Mustern oder eine schrille Stimmlage seien weitere „Red Flags“, die eine Abklärung notwendig machen würden. Zwar zeige sich schon früh, dass etwas nicht stimme, meist würden aber erst im Kindergarten aufgrund von Verzögerungen bzw. Störungen in der Sprachentwicklung die Alarmglocken schrillen. „Mir wäre es am liebsten, wenn die Kinder bereits mit 18 Monaten zu uns kommen“, betonte die Medizinerin. „Je eher die Diagnose gestellt wird, desto besser ist Autismus behandelbar. Entsprechende Screenings sind bereits mit einem Jahr möglich.“
Phänomen: Pseudo-Autismus
Sorgen bereitet der Kinderärztin aber besonders eine Entwicklung: „Immer jüngere Kinder spielen mit Handy und Tablet. Es ist keine Seltenheit, dass sich unter Dreijährige bis zu acht Stunden am Tag mit dem Smartphone beschäftigen“, skizzierte sie eine gesellschaftliche Tendenz mit gravierenden Folgen. Kinder, die täglich und stundenlang mit digitalen Geräten verbringen, können kaum mehr mit anderen kommunizieren. Genau wie autistische Kinder hätten Kinder mit sogenanntem „Pseudo-Autismus“ oder „virtuellem Autismus“ erhebliche Schwierigkeiten, sich auf etwas zu konzentrieren, den Blickkontakt zu halten oder die Gefühle anderer zu erkennen. Während bei einer „richtigen“ Autismus-Spektrum-Störung erbliche Faktoren als Hauptursache gelten, sind es hier die fehlende Aufmerksamkeit der Eltern gepaart mit exzessivem Medienkonsum. Gobara brachte auch die coronabedingte Erhöhung der Bildschirmzeit zur Sprache. „Wenn alle Familienmitglieder in die digitale Welt versunken sind, kommen die Bedürfnisse der Kinder zu kurz. Die Folge beim Kind sind Resignation und Frustration.“
Bücher statt Handy
Eltern müsse bewusst gemacht werden, welche prägenden Auswirkungen ihr Verhalten für Kinder habe: „Wenn ich beim Spazierengehen und Füttern ins Handy statt ins Gesicht meines Babys schaue, kann das zu Bindungsstörungen führen.“ Der Wunsch und Appell der Autismus-Expertin ist so klar wie dringlich: Unter Dreijährige sollten nicht mit digitalen Medien in Berührung kommen, dafür umso mehr mit sozialem Gegenüber und Bilderbüchern. Außerdem fordert sie Workshops zur Sprach- und Medienkompetenz für Eltern, ebenso wie mehr Aufklärung. Vielen Eltern sei nicht bewusst, welchen Schaden sie anrichten, wenn sie ihre Kinder quasi vor dem Tablet abstellen. Dabei würden sich Kinder heute das Gleiche wie früher wünschen: Zeit und Nähe der Eltern, eine Gutenachtgeschichte, draußen sein, mit Freunden spielen, Radfahren: „Der Alltag ist entscheidend, nicht die virtuelle Welt“, betonte Gobara.
„Unter Dreijährige sollten nicht mit digitalen Medien in Berührung kommen .“
