Das ganze Tal als Kulisse

Festivalleiter des Walserherbstes, Dietmar Nigsch, spricht über Kunst, neue Horizonte und Programmhighlights.
Großes Walsertal Alle zwei Jahre laden Dietmar Nigsch und Eugen Fulterer in den Biosphärenpark Großes Walsertal ein und inszenieren ein Festival mit Begegnungen mit Musik, bildender Kunst, europäischem Kino, Literatur, Land Art, Theater, Kulinarik und Volkskultur. Der Walserherbst, „das steilste Festival in den Bergen“, findet vom
20. August bis 12. September bereits zum neunten Mal statt. Zu einem zentralen Thema des Walserherbstes 2021 wird die Mobilität im Tal. Unter dem Titel „Verkehr(t)“ werden Experten und die Bevölkerung befragt, welche Schwerpunkte eine nachhaltige Verkehrspolitik im Walsertal haben muss.
1951 geboren und aufgewachsen im Großen Walsertal, wendete sich Dietmar Nigsch nach Jahren der Arbeit als Einzelhandelskaufmann, Sozialarbeiter und Kellner dem Theater zu und absolvierte eine Schauspielausbildung in Wien. 1988 gründete er das Projekttheater Vorarlberg mit Peter Turrinis „Wirtin“ im Zelt in St. Gerold.
Dem Theaterzelt folgten in den nachfolgenden 25 Jahren viele ungewöhnliche Räume, wie der alte Postautobus, die säkularisierte Kirche und das zum Abbruch bestimmte Hallenbad, die für außerordentliche Projekte herhielten. Damit prägte er nachhaltig die freie Theaterszene in Vorarlberg. 2004 führte das zur Gründung des Walserherbstes.
Ihr Leben hat schon ungewöhnlich viele Stationen durchlaufen. Wie kam es dazu?
Nigsch Was heute schon fast selbstverständlich ist, dass man im Laufe eines Arbeitslebens mehrere Berufe ausübt, war zu meiner Zeit noch unverständlich. Da hieß es dann oft: „Der weiß auch nicht recht, was er will.“ Oder auf Walserisch gesagt: „Du bischt mir aber an Vielschichtiga.“ Zweiteres konnte durchaus auch ein Kompliment sein. Ich war von Kind an schon ein neugieriger Mensch, wollte die Welt mit ihren Mitbewohnern genau betrachten. Das Schreiben- und Lesenlernen war für mich eine wunderbare Sache. Sobald ich es konnte, las ich alles, was die damalige Dorfbücherei zu bieten hatte. Die Ausübung meiner unterschiedlichsten Berufe fand immer fließend statt. Sobald ich merkte, jetzt könnte es bald nur noch zur Routine werden, habe ich mir eine nächste Aufgabe gesucht. Ich hatte schon immer mehr Freude an Abwechslung und Vielfalt als an reinem Sicherheitsdenken.
Sie sind geborener Walser, zogen dann aber in die Welt hinaus. Sind Sie also einerseits heimatverbunden, andererseits jemand, der auch Sehnsucht nach mehr hat?
Nigsch Meine Wurzeln sind im Großen Walsertal, darauf bin ich auch stolz, und ich komme immer wieder gerne dorthin zurück, aber ich möchte nie so fest verwurzelt sein, dass es mich in meinem Raum und Horizont einschränkt. Es gibt eine schöne Aussage von Alexander von Humboldt, die auch in unserem Festivalprogramm zu lesen ist: „Die gefährlichsten Weltanschauungen sind die Weltanschauungen der Leute, die noch nie die Welt angeschaut haben.“
Warum wollten Sie die Festivalleitung übernehmen?
Nigsch Mit der Gründung des BSP 2000 wollte ich als Walser meinen kulturellen Beitrag einbringen. Ich bin nicht angetreten, um Kultur ins Tal zu bringen. Das wäre vermessen, denn die Kultur haben die Walser bereits. Es ist vielmehr die Erweiterung der Sichtweisen, das Entdecken neuer Formen, Erstarrtes in Bewegung bringen und Kunst als notwendiges (Um)gestalten unserer alltäglichen Lebensräume zu sehen. Je näher die Kunst am Menschen ist, desto stärker ist sie. Ich erkenne das Kraftpotenzial dieses Lebensraumes und deren Bewohnern und möchte es mit einer Mischung aus Tradition und Neuem immer wieder neu erlebbar machen.
War die Begeisterung bei den Walsern gleich da oder musste sie erst erarbeitet werden?
Nigsch Grundsätzlich hatte ich das Vertrauen von allen Gemeindeverantwortlichen; das ist schon mal eine gute Voraussetzung für ein talweites Festival. Man ließ mich und mein kleines Team arbeiten und war gespannt, was da wohl herauskommen wird, wenn ein gutes Team mit einigen Visionen und Sehnsüchten ans Werk ging.
Dem Theaterzelt folgten viele ungewöhnliche Orte für außerordentliche Projekte. Kommt daher auch der Wunsch, hier an den verschiedensten Orten zu inszenieren?
Nigsch Orte sind inspirierend. Das mag auch daran liegen, dass ich als Schauspieler die Landschaften als „Kulisse“ betrachte, die man dann mit allen möglichen Künsten bespielen kann. Da ist ein ganzes Tal ein großer Inspirations- und Kraftraum.
Meinen Sie, die Menschen sehnen sich wieder danach, unter die Leute zu kommen?
Nigsch Das Leben scheint mir zu vielfältig, um sich in Einfalt darin zu bewegen. Was der Verlust von Begegnungen und Berührungen in uns auslöst, haben wir mit der Dauer der Pandemie teilweise schmerzlich erfahren müssen und vielleicht haben wir dadurch das gegenseitige Wertschätzen wiederentdeckt. Ich glaube, wenn wir unsere Wurzeln, das Traditionelle nicht (er)kennen, sind wir nicht fähig, Neues und Ungewohntes zu verstehen und anzunehmen.
Was sind Ihre persönlichen Highlights des Walserherbstes 2021?
Nigsch Die Frage der Highlights kommt immer wieder, wie das Amen im Gebet. Ich möchte ein paar Höhepunkte aus dem Programm aufzählen. Zur vollständigen Information haben wir natürlich auch ein Programmheft aufgelegt. Aber die Highlights sind für mich: SunBengSitting (Tanzperformance mit Tanzworkshop), Trilogie Brandalpe (Land-Art-Installation Matthias Würfel auf der Brandalpe in Damüls), Inspiration Flusslandschaft (Land-Art-Workshop), Diskurs „Verkehr(t) in die Gänge kommen“, die Fotoausstellung „Schlussverkauf“ und „Walser Bildgeschichten 1977–2020“ von Nikolaus Walter, das Federspiel Bläserensemble, die Klingende Kirche und nicht zu vergessen das temporär eingerichtete Retro-Kaffeehaus im originalen 60er/70er Stil im Gasthaus Falva in Blons. HAB
Zur Person
Dietmar Nigsch
Geboren 17. Juni 1951 in Bludenz
Wohnort Wien, aufgewachsen in Blons
Beruflicher Werdegang
Einzelhandelskaufmann, Sozialarbeiter und Kellner,
1981-84 Schauspielausbildung in Wien,
2004 Gründung des Walserherbstes
vn.at/mehrwissen
Programmheft Walserherbst
http://VN.AT/sukVEv