Molta-Kinderzeit

Kultur / 29.05.2020 • 18:39 Uhr
Waldstück aus einem Gemälde der Vorarlberger Künstlerin Alexandra Wacker. VN/RP, Jäger
Waldstück aus einem Gemälde der Vorarlberger Künstlerin Alexandra Wacker. VN/RP, Jäger

Die Kinder spielten im Wald nahe der Hütte. Dazu brauchten sie keine Spielsachen vom Haus – auch dort gab es nur wenige – die Spielsachen waren im Wald und immer verfügbar; der Spielraum war der Wald mit seinen Baumstöcken, mit dem, was nach dem Fällen der Bäume übrig blieb, mit seinen Steinblöcken, den kleinen und größeren, mit den Furchen und Hügeln, mit seinen Gräsern, Moosen und Farnen. Es war ein Spielreich mit allem, was zum Spielen dazugehört, vor allem unendlich groß und offen für die Fantasie. Die Kinder hatten sich einen besonderen Platz ausgesucht in der Nähe des Waldrandes und – wie gesagt – in Rufweite der Hütte. Sie spielten Bauernschaft. Da gab es eine Wiese, die jedes Frühjahr vom Laub und kleinen Ästen gereinigt wurde. Da war ein mit Moos überwachsener Steinblock; der hatte oben eine ebene Fläche, die ebenfalls als Wiese genutzt wurde, wie im anderen Leben „Höhe“ genannt. Und natürlich mussten die Wiesen eingezäunt werden, damit die Tiere nicht weglaufen konnten. Die Tiere: Da waren die Kühe, Fichtenzapfen; da waren Ziegen, von Eichhörnchen bis auf einen kleinen Rest an der Spitze abgefressene Fichtenzapfen und da waren die Pferde, die Zapfen der Tannen. Und dann gab es einen Stall für die Tiere in einer Höhle unter dem großen Stein. Jedes der Kinder hatte seine eigene Wiese mit einem Stall für die Tiere. Die Tiere wurden nach dem Melken am Morgen auf die Wiese getrieben und das dauerte eine Weile, weil einige einfach nicht die gewünschte Richtung gehen wollten oder besonders die jungen Tiere übermütig herumhüpften.

Ein idealer Spielplatz: mit Schatten im Sommer, wenn es heiß war, nicht weit weg vom Haus und doch weit genug, um für sich zu sein, bis der Ruf zum Essen oder Schlafengehen vom Haus herauftönte. Durch einen kleinen Regen ließen sie sich nicht vom Spielen abbringen, denn sie waren eine Zeit lang durch die großen Tannen geschützt.

Vor wenigen Tagen war die Familie vom Dorf heraufgezogen. Dort hatten die Kühe die Wiesen „abgefretzt“ und so hieß es, wie jedes Frühjahr, auf die nächste Stufe zu ziehen, ins Vorsäß. Wie der Name vermuten lässt, gibt es danach noch eine Stufe, die Alpwirtschaft. Da gab es natürlich Routine, was alles gemacht werden muss: Im Gang, dem Vorraum, wurde ein Zipfeltuch ausgebreitet, ein großes Tuch aus Jutestoff, mit dem sonst das Heu von steilen Hängen transportiert wurde, wo kein Wagen eingesetzt werden konnte. Auf dieses Tuch wurde alles an Hausrat und Lebensmitteln ausgebreitet, was mit auf das Vorsäß musste. Zuletzt wurden die vier Zipfel zusammengebunden und das Ganze auf das Bergwägele verfrachtet, wo inzwischen auch schon die Gitterkiste mit den Hühnern und die Kiste mit den Ferkeln verstaut worden war. Unsere Kleinkindgeschwisterchen wurden zuletzt in das Zipfeltuch gesteckt. Sie hatten nun den beneidenswert schönsten Platz mit prächtiger Aussicht.

Mama durfte zuletzt auf dem Bergwägele Platz nehmen und los ging der Umzug ins Molta mit Liesl, dem Haflinger, als Zugtier. Die schon etwas älteren Geschwister hatten die Aufgabe, die Kühe und das Jungvieh zu treiben. Manchmal war das eine schweißtreibende Angelegenheit, wenn sie – besonders die Jungen – eine falsche Abzweigung nehmen wollten. Nicht immer hielten sich die Viecher an die Richtung der Leitkuh, die den Weg kannte. Und dann waren da noch das Mutterschwein und die Halbwüchsigen, die auch getrieben wurden. Das dauerte allerdings um vieles länger als der Auftrieb der Kühe; manchmal, vor allem wenn es heiß war, streikten sie regelrecht und legten sich zu einer Rast einfach nieder.

Nur mit Mühe waren sie zum Weitergehen zu bewegen. Nach der Bezeggsul war es schon fast geschafft, nur noch eine Steigung, nach rechts abbiegen und da stand sie, die stolze, gegen Osten ausgerichtete sonnverbrannte Molta-Hütte. Seit Anfang Dezember hatten wir sie nicht mehr gesehen.

Molta-Kinderzeit

Zur Person

Leo Jäger

Geboren 1945, aufgewachsen im Bregenzerwald

Ausbildung Matura, Studium Sozialarbeit in Innsbruck

Werdegang Tätigkeit als Diplomsozialarbeiter, mittlerweile pensioniert; Literarische Arbeiten, Teilnahme an der Schreibwerkstatt von Christine Hartmann

Veröffentlichungen Texte in Anthologien