Das Recht zum Leben erwecken

Kultur / 03.07.2020 • 17:23 Uhr
Die RichterinLydia MischkulnigHaymon296 Seiten

Die Richterin

Lydia Mischkulnig

Haymon

296 Seiten

Vielschichtige Geschichte einer Asylrichterin.

Roman Gabrielle ist Richterin am Verwaltungsgerichtshof in Wien und damit zuständig für Berufungen, Verfahren in zweiter Instanz. Eigentlich würde sie viel lieber Einsprüche in komplizierten Vergabe- und Vertragsverfahren behandeln, wo Verhandlungsgeschick und Kenntnis vielfältiger Rechtsmaterien gefragt ist. Die Asylbescheide jedoch, die mittlerweile den größten Teil ihrer Fälle ausmachen, sind meist streng schematisch. Dennoch nimmt sie ihre Aufgabe ernst und versucht sich möglichst umfassend zu informieren.

Lydia Mischkulnig, die ihre literarische Karriere auf Ungewissheit und Unsicherheit gebaut hat, die sie in Romanen wie „Schwestern der Angst“ oder „Vom Gebrauch der Wünsche“ meisterhaft zu erzeugen vermochte, scheint sich jedoch zunächst gar nicht so sehr für jene Menschen zu interessieren, die Gabrielle im Verhandlungssaal begegnen. Viel spannender ist das, was sie alles über „Die Richterin“ erzählt. Aus vielen Versatzstücken baut die seit Langem in Wien lebende Klagenfurterin eine Hauptfigur, bei der man nicht so recht weiß, woran man ist. Da ist offenbar eine schleichende Erblindung, einhergehend mit Schwindelgefühlen und Stolpereien. Da ist eine ganz und gar nicht glückliche Kindheit, in der sie etwa den Leichnam des toten Vaters entdecken musste. Doch auch vieles an ihrem Mann Joe ist nicht zu verstehen. Der nach einer Affäre rund um seinen eigenwilligen Sexualkundeunterricht frühpensionierte Mittelschullehrer führt zu Hause ein strenges, penibles Zeit- und Putz-Regiment, bei dem er nicht gestört werden möchte. Als Gabrielle eines Tages etwas früher nach Hause kommt, macht sie eine aufwühlende Entdeckung. Und die 40-jährige Ehe bekommt Risse.

Schärfung der Wahrnehmung

Wohin Mischkulnig das Ganze treiben will, ist bis dahin nicht ganz klar. Just, als das Unheimliche überhandzunehmen scheint und in Gabrielles Privatleben alles ins Wanken gerät, führt die Autorin den Leser in den Gerichtssaal und zeigt die Richterin beim „Schaffen von Wirklichkeit“. In der zweiten Hälfte des Romans können wir Gabrielle eine Weile bei ihrer Arbeit zusehen, die sie überaus ernst nimmt. „Recht zu judizieren hieß, es zum Leben zu erwecken.“ Gleichzeitig gilt es, möglichst viele Fakten zu sammeln, und möglichst wenig Emotionen zuzulassen. Ein scheinbarer Widerspruch, der immer mehr die Grundfrage herausarbeitet, um die es in diesem Roman geht: Wie trügerisch ist eine aus Regeln und Gesetzen geschaffene Sicherheit, wenn alle Grenzen und Gewissheiten zu verschwimmen beginnen? Ein Krimi oder gar ein Thriller wird aus „Die Richterin“ dennoch nicht. Es ist kein einfaches Buch, es ist keines, das sich für die Asyldiskussion verwenden lässt, aber eines, das sich für die Literaturdebatte eignet. Denn „Die Richterin“ hält zwar auch ein Plädoyer für die Menschlichkeit, aber vor allem für die Schärfung der Wahrnehmung.