Erinnerungslose Politiker
Ich erinnere mich an meine Matura vor gut einem halben Jahrhundert. Ich war kein guter Schüler, hatte damit oft Lücken in der Beantwortung der gestellten Fragen. Ich hatte allerdings keine Erinnerungslücken, ich hatte schlichtweg zu wenig gelernt, verstand also einfach nicht, was da gefragt wurde. Aber immerhin: Das Wenige, das ich vorbringen konnte, genügte letztlich zu einem Durchkommen und damit einem „Reif“ für das Studium an der Universität. Mehr wollte ich auch nicht. Hätte ich allerdings bei diesen Prüfungen Erinnerungslücken wie unsere maßgeblichen Politiker, wie Bundeskanzler Sebastian Kurz und Finanzminister Gernot Blümel vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss gehabt, so wäre das Ende weniger glücklich gewesen.
Das war schon beeindruckend, was da die höchsten Repräsentanten unserer Republik von sich gaben. Eigentlich konnten sie sich auf Befragung der Ausschussmitglieder an gar nichts erinnern, zumindest an nichts, das für die Wahrheitsfindung im Ausschuss wichtig gewesen wäre. Kurz gab nicht nur an, seine Mittelungen am Handy immer wieder zu löschen, er hatte offensichtlich auch in seiner Erinnerung bestimmte Dinge gelöscht. Auf genau 29 Fragen glänzte Kurz mit Erinnerungslücken. Das war schon erstaunlich, wurde aber noch deutlich übertroffen von seinem Finanzminister Gernot Blümel, der einen Tag später vor dem Ausschuss antrat. Auf 86 Fragen verwies Blümel mit durchaus variantenreichen Worten auf Erinnerungslücken: „Bitte erwarten Sie sich nicht von mir, dass ich mich an die Gespräche von allen geplanten und ungeplanten Treffen erinnere“, meinte er einmal, ein anders Mal: „Ich kann für mich ausschließen, davon etwas zu wissen.“ Er erinnerte sich auch nicht daran, jemals mit einem Laptop gearbeitet zu haben – obwohl davon Bilder im Netz kursieren. Nachdem Blümel gerade einmal etwa zwei Jahre Minister ist, scheint doch auffallend, wie sehr bei ihm das Kurzzeitgedächtnis fehlt.
„Das war schon beeindruckend, was da die höchsten Repräsentanten unserer Republik von sich gaben.“
Bei so viel Abwesenheit von Wissen über wichtige Treffen und Gespräche muss die Frage erlaubt sein, ob die beiden Herren angesichts solchen Gedächtnisschwundes in der Lage sind, ihre Ämter verantwortungsvoll zu führen. Wenn sie sich in solchem Zusammenhang nicht erinnern, wie sollen sie dann Politik machen. Jedem mittleren Angestellten, der so wenig über seine Arbeitszeit der letzten beiden Jahre Auskunft geben kann, würde man vermutlich wegen Unfähigkeit den Stuhl vor die Tür setzen. Das ist in der Politik natürlich weder angebracht noch möglich. Aber Gedanken über die Abwesenheit ihrer Gedanken darf man sich doch machen.
Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.
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